Krisen und Massenhysterien, als Beispiele für die Gefahren unkontrollierten „Querdenkens“?.
In „Kurz, knapp, kurios“ Seite 262 „Der sagenhafte Cargo-Kult“ und Seite 323 „Ein Renaissanceprophet im Wankelmut der Massen“ sind wir auf Massensituationen eingegangen, in denen Menschen ihre Kritikfähigkeit einbüßen können.
In zurückliegenden Jahrhunderten haben leicht erregbare und durch Argumente nicht mehr erreichbare Menschenmassen in vielfältiger Form überraschende, manchmal katastrophale Ausbrüche erfahren.
Der Begriff „Massensituation“ nimmt Bezug auf das Buch „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon (1841-1931), dessen Beobachtungen auch in das bekannt Werk „Masse und Macht“ des Nobelpreisträgers Elias Canetti mit weiteren, erschütternden Beispielen Eingang fanden.
Eine spezielle Form dieser Massensituation ist der „Krisenkult“ (Weston La Barre, 1971), der in einer Zeit der Hoffnungslosigkeit neue Hoffnung bringen soll. Beispiele wären die Geißlerzüge des Mittelalters, die Geistertänze der Indianer zwischen 1870 und 1890 (vgl. „Das war der Wilde Westen“ Teil 6 „Der Geistertanz“) und die nachfolgende Geschichte aus dem südlichen Afrika.
Derart unerklärliche Ausbrüche, geboren aus Furcht oder Hass oder auch aus beiden zugleich, gab es nicht nur bei unterentwickelten Völkern, sondern auch in christlichen, islamischen und sonstigen Hochkulturen.
Heute, in der Corona-Krise, setzen sich Impfverweigerer dem Verdacht aus, Opfer einer Massenhysterie zu werden.
Also ist nicht nicht auszuschließen, dass Massensituationen verschiedenster Art jederzeit wieder ausbrechen können.
Die Xhosa im 19. Jahrhundert
Vor der Kolonisierung Südafrikas waren die Xhosa ein aus dem Norden eingewandertes Bantu-Volk von Viehzüchtern im Südöstlichen Südafrika (im heutigen Natal), südlich von Durban (Port Natal). Sie lebten in traditionellen Stammesstrukturen mit einem Oberhaupt (Chief). In ihren Traditionen spielte der Ahnenkult eine wichtige Rolle; sie suchten z. B. Kontakte zu den im Transzendenten lebenden Ahnen und erhofften sich von diesen wichtige Ratschläge. (6)
Durch die Einwanderung der „Weißen“ – zunächst Niederländer (Buren), dann vor allem Engländer – gab es Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Interessen der europäischen Siedler. So kam es von 1779 an zu einer Reihe von blutigen Grenzkriegen zwischen der Kapkolonie und den Xhosa.
Die Urbevölkerung aus San („Buschleuten“) und Khoikhoi („Hottentotten“) wurde dabei kulturell, politisch und sozial in eine Außenseiterposition gedrängt, und auch die Stammesstrukturen der anderen indigenen Völker wurden erschüttert.
Nach einem guten halben Jahrhundert zermürbender Kleinkriege gegen die sich ausbreitenden Einwanderer aus Europa, hatten die Xhosa einen großen Teil ihres Territoriums verloren und schwere Verluste an Menschen und Vieh erlitten.
Als sich dann 1854 noch eine Lungenkrankheit unter dem Vieh ausbreitete, waren die verzweifelten Xhosa reif für einen „Krisen-Kult“ ganz besonderer Art, der ihnen Hoffnung bringen sollte.
Eigenartige Visionen und die Folgen
Im Mai 1856 hatte das Mädchen Nongqwuse beim Wasserholen in einer merkwürdigen Vision drei Geister gesehen. Diese Ahnen-Geister beauftragten sie, im Dorf eine Botschaft des verstorbenen Häuptlings Napakade zu verbreiten, dass die Toten auferstehen würden, wenn die Xhosa ihr gesamtes Vieh, das verhext sei, töten würden. Auch die ebenfalls verhexte Getreideernte müsse vernichtet werden. Am Tag nach den restlosen Zerstörungen der Nahrungsvorräte würden „Unmengen von viel schönerem Vieh aus er Erde auftauchen, während große Felder mit Getreide, reif und bereit zur Ernte, plötzlich erscheinen. Die Toten der Xhosa würden auferstehen, Probleme und Krankheiten verschwinden … und die verhassten Weißen würden untergehen…“ (8)
Niemand im Dorf glaubte ihr.
Am nächsten Tag war Nongqwuse wieder am Fluss und die Geister sagten, sie möge ihrem Onkel Mhlakaza – einem Seher – ausrichten, er solle den Ort der Erscheinung aufsuchen. Der Onkel konnte dort zwar die Geister nicht sehen, hörte aber deren Stimmen und begann zu glauben.
Der Onkel erzählte diese Botschaft den Häuptlingen und allen Xhosa.
„Die gleichzeitige Ausbreitung der Lungenkrankheit unter dem Vieh führte dazu, dass die Xhosa der Botschaft Glauben zu schenken begannen … Als weiteren Beweis der Prophezeiung wurde der Tod des Gouverneurs der Kapkolonie, George Cathcart, der 1854 im Krimkrieg gefallen war, angesehen.“ (8).
Dazu hatte es noch geheißen: Feinde der Engländer – die Russen, die am 25. Oktober 1854 im Krimkrieg bei Balaklawa eine verlustreiche Schlacht gewonnen hatten – würden landen und helfen, die Engländer zu vertreiben. (2)
„Die Xhosa schlachteten etwa 400.000 Tiere ihres Viehbestandes.“ (8).
Diese Massenschlachtungen und Vernichtungen von Getreide fielen den benachbarten Weißen auf. Diese konnten kaum glauben, was sie sehen mussten und versuchten, die Xhosa von diesem Irrsinn abzuhalten. Leider ohne Erfolg.
„Doch die Toten erschienen nicht und damit auch keine gesunden Tiere. Zehntausende Xhosa verhungerten. Alleine im Jahr 1857 sank die Bevölkerung der Xhosa von 105.000 auf 37.500. Den Tiefpunkt erreichte sie ein Jahr später mit 25.916 Menschen. Die Xhosa verloren dabei nicht nur einen großen Teil ihres Viehs und Menschen ihres Volkes, sondern auch rund 600.000 Acres (2.000 km2) Land. Das entvölkerte Land wurde anschließend mit europäischen Siedlern aufgefüllt.“ (8).
Viele Xhosa hatten nur die Wahl, zu verhungern oder andernorts nach Nahrung zu suchen, so dass heute Xhosa in fast ganz Südafrika zu finden sind.
Über die Schuld der Katastrophe der Xhosa wird bis heute gestritten.
Aus europäischer Sicht haben allein die Xhosa die Verantwortung.
Diese wiederum geben den Briten eine Mitschuld, da diese das Mädchen Nongqawuse manipuliert haben sollen und dann bei der Hungersnot die benötigte Hilfe verweigert hätten.
Literatur:
(1) Achille Mbembe: „Das Nongqawuse-Syndrom“ in „Der Überblick“ 03/2006 S. 58, Hamburg.
(2) James A. Michener: „Verheißene Erde“, Knaur, 1980.
(3) J. B. Peires: „Die Toten werden auferstehen: Nongqawuse und die Begebenheit der großen Vieh-Schlachtung von 1856/57“ (zitiert in (1).
(4) Wikipedia: „Ahnenkult – Das Xhosa umkhapho Ritual“.
(5) Wikipedia: „Geistertanzbewegung“.
(6) wikipedia: „Viehtötung der Xhosa“.