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Merkwürdige Geschichten

Der echte Robinson

Zu der Zeit als ich zur Schule ging, kannte fast jedes Kind den „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe (ca. 1660-1731). Das Buch gab es in etlichen Ausgaben, darunter auch vereinfachte Fassungen für Kinder, und „Robinson“ wurde zum Synonym für einen Einsiedler auf einsamer Insel.
Der Bestseller fand Nachahmer, und die „Robinsonaden“ – Abenteuergeschichten um Segelschiffe, Schiffbrüchige und einsame Inseln – wurden zu einer eigenen Literaturgattung. Der englische Seeoffizier Frederick Marryat (1792-1848) als Beispiel, ließ in seinem „Sigismund Rüstig“ sogar eine ganze Familie an einer einsamen Inseln stranden, wo sie sich durchkämpfen und sogar gegen blutrünstige Eingeborene verteidigen musste.

Defoes „Robinson Crusoe“ war allerdings keine reine Phantasiegestalt, sondern hatte ein reales Vorbild:

Alexander Selkirk (1676-1721)
Der gebürtige Schotte war ein etwas wilder, erfahrener Seemann, der z. B. als Segelmeister[1] auf etlichen Schiffen, darunter auch Kaperschiffen, diente.
Im Oktober 1704 landete sein Schiff auf der „Isla Mas a Tierra“ (im heutigen Juan-Fernandez-Archipel, westlich von Chile im Pazifik), um nach Trinkwasser zu suchen. Keine unentdeckte, doch schöne Insel mit ausreichend Vorräten für etliche Bewohner und reichlich Wasser. Das Klima ist ganzjährig ausgeglichen. Heute leben dort etwa 600 Menschen, vor allem Langustenfischer.

Nach der Landung zeigte sich, dass der Schiffsrumpf stark von Bohrmuscheln[2] beschädigt war. Nach Selkirks Meinung konnte das Schiff den nächsten Hafen nicht mehr erreichen. Der Kapitän war anderer Meinung als der als Hitzkopf bekannte Selkirk und es kam zum Streit, der damit endete, dass Selkirk alleine auf der Insel zurückblieb.
Das rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Denn das Schiff war tatsächlich so stark beschädigt, dass es bald darauf kenterte und der größte Teil der Besatzung ertrank.

Selkirks bescheidene Ausrüstung bestand aus einer Muskete mit Munition, Feuerstein, etwas Tabak, Ersatzkleidung, einem Beil, einem Kochtopf und einer Bibel. Hinzu kam ein Messer, wie es jeder Seemann bei sich trug.

Er kampierte zuerst am Strand, wohl in einer Höhle. Später fand er eine schöne Quelle, an der er sich eine Hütte bauen konnte. Ärger machten von einem Schiff eingeschleppte Ratten, die ihn so lange belästigten, bis es ihm gelang, ebenfalls angelandete Katzen zu zähmen, die ihn dann schützen konnten.

Die Ressourcen der Insel verstand er sehr geschickt zu nutzen:
* Am Strand gab es Schalentiere, aber auch große, nicht ungefährliche Seelöwen. In einer Lagune konnte er Langusten und Fische erbeuten.
* Im Inneren der Insel fanden sich glücklicherweise Ziegen, die Fleisch, Milch und Felle lieferten. Manche Kapitäne setzten damals einige Ziegen auf einsamen Inseln aus. Als Notproviant für Schiffbrüchige oder als willkommene Zusatzkost für anlandende Schiffe. Ohne natürliche Feinde kamen diese Ziegen meist gut zurecht und vermehrten sich.
* Auch mit Pflanzen kannte sich Selkirk aus: Er fand wildwachsende Pastinaken mit karottenähnlichen Wurzeln, die Gemüse lieferten, sowie Rettiche, Krauter und Pfefferbeeren als Ergänzung zu seiner Fleischnahrung. Nur Salz vermisste er sehr. Durch seine abwechslungsreiche Nahrung blieb er gesunder als viele Seefahrer der Zeit, die oft unter Skorbut litten.
* Als seine Kleidung total verschlissen war, musste er sich mit selbst gebastelter Kleidung aus Ziegenfellen behelfen. Löcher konnte er wohl mit einem, später von Archäologen gefundenen Stechzirkel (ein für einen Segelmeister typisches Hilfsmittel) in die Felle stechen. Den Zwirn mussten Ziegen-Sehnen ersetzen. Schuhe wusste er nicht anzufertigen, nachdem die seinigen restlos abgetragen waren. Doch seine Füße waren inzwischen so mit Hornhaut bedeckt, dass er auf Schuhe verzichten konnte.
* Er schaffte es sogar, aus den Reifen eines am Strand gefundenen Fasses, ein Messer zu schmieden. Dazu musste er zuerst Holzkohle erzeugen, für ein ausreichendes Schmiedefeuer. Er war ein vielseitiger Handwerker.

Selkirk war mit seiner Selbstversorgung zeitlich gut ausgelastet, doch belastete ihn die Einsamkeit. Um nicht depressiv zu werden las er oft in der Bibel. Diese erzählt ja nicht nur von einem eifersüchtigen Rachegott, der jede Verfehlung streng bestraft, sondern enthält – vor allem im Neuen Testament – auch Worte der Hoffnung, die in Notlagen innere Kraft schenken können.

Als 1707 ein spanisches Schiff anlandete, musste Selkirk ins Innere der Insel fliehen und sich verstecken. Die Spanier, die keine Ausländer in ihrem Revier duldeten, hätten ihn als Freibeuter behandelt und einen kurzen, aber brutalen Prozess gemacht.

Die Rettung brachte dann am 2. Februar 1709 das britische Kaperschiff Duke, das vor der Insel ankerte und Selkirk aufnahm. Er schloss sich der Besatzung an, deren Schiff, geschützt durch einen Kaperbrief[3], im Namen der Krone Englands Feinde bekämpfte und ausraubte.

Der einstige Insulaner kehrte dann 1711 mit einigem Vermögen als Berühmtheit für einige Zeit nach England zurück.
Danach zog es ihn wieder zur See, wo er als Leutnant an Bord eines britischen Kriegsschiffs verstarb.

Weithin bekannt gemacht wurde sein Insel-Abenteuer erstmals 1712 in dem Buch „Cruising Voyage“ von Woods Rogers. In neuester Zeit suchten Archäologen nach den Spuren seines Aufenthalts auf seiner Insel, die inzwischen, um ihn zu ehren, in „Alejandro Selkirk“ umbenannt wurde.

Endnoten:
[1] Der Segelmeister (engl. Sailing master) war ein erfahrener Seemann, der für die Navigation zuständig war. Etwa wie heute der Steuermann.
[2] Die Schiffsbohrmuschel (Schiffsbohrwurm, Teredo navalis) lebt in warmen bis gemäßigten Zonen im Salzwasser. Sie kann überall Schaden anrichten, wo geeignete Holzbauten im Wasser stehen. Durch Holzschiffe wurde sie weltweit verschleppt. Zum Glück gibt es den Schiffsbohrwurm nicht in der nicht sehr salzhaltigen, kühlen Ostsee. Sonst könnten wir die barocke Wasa von 1628 nicht in ihrem Museum in Stockholm bewundern.
Erst vom Ende des 18. Jahrhunderts an wurden Schiffe regelmäßig mit Kupferplatten beschlagen, die gegen den Bohrwurm schützten, aber nicht immer lange genug hielten.
[3] Solche Kaperschiffe waren Seeräubern recht ähnlich, nur dass sie sich bei ihren Kaperungen auf die Schiffe feindlicher Länder beschränken mussten.

Literatur:
(1) Wikipedia „Alexander Selkirk“.
(2) „Gestrandet im Paradie“, Der Spiegel vom 2. 2. 2009, zum 300. Jahrestag der Rettung von Alexander Selkirk.