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Wirtschaft und Soziales

Die Sache mit dem „Vietnam-Effekt“

Am 11. April 2022 besuchte der Österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin. Nehammer wollte in einem, vermutlich intensiven Gespräch, über das zunächst nichts verlautbart wurde, Wladimir Putin darauf aufmerksam  machen, wie der Ukraine-Krieg – der in Russland „Spezielle Militäroperation genannt“ werden muss – im Westen aufgenommen wird. Als Repräsentant eines neutralen Landes, ohne Bindung an ein Militärbündnis, konnte Nehammer Klartext reden und zugleich versuchen, zu vermitteln. Dabei bekam Nehammer auch einen Eindruck, wie Putin selbst diesen Krieg sieht, bei dem in den russischen Medien alle Verantwortung auf den Westen abgewälzt wird.

Wie in einer Demokratie nicht anders zu erwarten, wurde Nehammer für seine Bemühungen kritisiert; denn nach Ansicht von Extremisten und sonstigen Besserwissern darf man mit einem „Kriegsverbrecher“ nicht verhandeln.
Doch früher oder später wird man verhandeln müssen, um den Krieg zu beenden! –

Persönlich halte ich solche Gespräche für wertvoll und notwendig. Denn man kann sich nicht darauf verlassen, dass Wladimir Putin von seiner Entourage objektiv informiert wird, denn Autokraten sind nicht selten geradezu „Gefangene“ Ihres „Hofstaates“.
Ist Putin sich über die Stimmung in seinen Truppen, die Lage an der Front mit erstaunlich vielen gefallenen Russen, die Nachschubprobleme, die vielen getöteten Zivilisten, die zum Teil wohl vorsätzlich ermordet wurden, im Klaren? Hat er leichtfertig einen Konflikt ausgelöst, dessen Tragweite noch nicht abzusehen Ist?
Sieht er auch den Hass und die Wut mit denen die Ukrainer sich und ihr Land gegen die Eindringlinge verteidigen? Ist er sich darüber im Klaren, welches Entsetzen dieser verbrecherische Krieg, und der damit verbundene Völkermord, weltweit ausgelöst hat?

Der Vietnam-Effekt

Bei großen Organisationen – ob militärisch oder zivil – stößt man auf ein Phänomen, das hier als „Vietnam-Effekt“ bezeichnet wird, und das sich vielleicht sogar neben „Parkinsons Laws“ [[i]] sehen lassen kann.
Große Organisationen kranken daran, dass ihre Manager zwar freudig und prompt Erfolge nach „Oben“ melden, aber nur sehr ungern und zögernd Fehlschläge eingestehen; selbst dann nicht, wenn sie für diese Misserfolge persönlich nicht verantwortlich zu machen sind. Wer schlechte Nachrichten bringt, wird nirgends gern gesehen.
Bei Tyrannen der Antike bekamen die Überbringer von Unglücksbotschaften nicht selten die Zornesausbrüche des Tyrannen zu spüren. Etwa dadurch, dass der Tyrann den Unglücksboten im ersten Wutausbruch kurzerhand erschlug.
Anschließend musste der Tyrann sich dann fassen und darüber nachdenken, wie dem „völlig überraschenden“ Unglück zu begegnen sei – völlig überraschend für den Tyrannen, der bis dahin durch lauter, nur scheinbar gute Nachrichten unvollständig oder sogar falsch informiert war.

Im menschlichen Verhalten hat sich seitdem nichts Grundsätzliches geändert. Wer in Diktaturen oder autoritären Systemen, sogar in Demokratien, Niederlagen melden muss, macht sich nach wie vor unbeliebt und bekommt das nicht selten auch heute noch zu spüren – wenn auch kaum mehr so drastisch wie in der Antike.

Eine große Organisation hat viele Stufen. Für jede Stufe gelten in diesem Zusammenhang die gleichen Gesichtspunkte, nämlich dass keiner gerne ein Katastrophen-Warner ist. Eine schlimme Information kann beispielsweise von Stufe zu Stufe so abgemildert oder verdreht werden, dass zuletzt aus einem totalen Debakel im Dschungel ein annehmbarer Erfolg geworden ist.
Auf entsprechende Weise wurde es möglich, dass zwischen 1964 und 1975 nacheinander drei Präsidenten der USA während des Vietnam-Kriegs (zumindest in der Außenwirkung) die Überzeugung vertraten, der Vietkong sei dem Zusammenbruch nahe, und der Krieg bald gewonnen.
Beobachter, darunter auch Journalisten, die eine realistischere Ansicht publizierten, wurden diffamiert.
Denn die Politik steht über den Fakten und gibt Fehler nur sehr ungern zu!

So wurden über Nord- und Südvietnam mehr Bomben von den USA abgeworfen, als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Etwa 6 Millionen Menschen, darunter 58.000 US-Soldaten, kamen ums Leben. Die Zerstörungen an Gebäuden, Gütern und der Umwelt sind kaum abzuschätzen.
Schließlich ließ sich nicht mehr verdrängen, dass dieser Krieg mit keinem, auch nur annähernd vertretbarem Einsatz zu gewinnen war.
Die USA mussten eine blamable Niederlage hinnehmen.

Fazit

Viel gelernt haben Manager und Politiker bis heute wohl nicht aus dem „Vietnam-Effekt“, den man spätestens seit 2021 ebenso gut als „Afghanistan-Effekt“ bezeichnen könnte. Denn in Afghanistan hat sich ein vergleichbares Debakel aus ähnlichen Gründen wiederholt.
Nach wie vor werden unangenehme Fakten – leider auch in Demokratien – verdrängt, verharmlost, negiert. Warner werden diffamiert, und viel mediales und politisches Geschwätz soll die Analyse der unerfreulichen Gegebenheiten ersetzen. Man darf ja die Wähler nicht verunsichern!

Viele wollen noch immer nicht akzeptieren, dass eine geschönte oder manipulierte Nachricht eine falsche Nachricht ist, und eine halbe Wahrheit eine ganze Lüge sein kann.
Das dann zu zahlende Lehrgeld kann ruinös werden.  –

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Lesen Sie dazu beispielhaft „Abschied von der (sozialen) Marktwirtschaft?“ unter „Wirtschaft und Soziales“. Der dort kritisierte leichtfertige Umgang mit dem Notenbank-Geld hat sich inzwischen durch den Krimkrieg noch dramatisch verschärft.

Endnote:
[[i]] „Parkinsons Gesetze“: Die viel zitierten, in humoristischer Form veröffentlichten Gesetzmäßigkeiten, die C. N. Parkinson in der Wirtschaft entdeckt hat. Inzwischen hat Parkinson etliche Nachahmer gefunden, wie z. B. in dem Buch „Das Peter-Prinzip“. Bei allem, manchmal fast skurrilen Humor, steckt in diesen Publikationen ein ernst zu nehmender Kern.