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Buch- und Filmbesprechungen

Licht aus dem Osten

Von Peter Frankopan, Rowolt, Reinbeck, 2017.  

Verschiedene historische Schriften versprachen eine „Neue Geschichte der Welt“, doch in den meisten Fällen blieb es dann doch, mehr oder weniger, im Rahmen der üblichen Betrachtungen.

Nach dem allgemeinen Geschichtsverständnis des Abendlandes spielte sich die Weltgeschichte zuerst vor allem rund um das Mittelmeer ab. Vom fernen Osten wusste man lange Zeit wenig.
Nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken (1453) und der Entdeckung Amerikas (1492), verlagerte sich das Geschehen – aus europäischer Sicht – überwiegend in den atlantischen Raum; mit Abstechern nach Indien, den Gewürzinseln, den Pazifik und China bis Japan.
In der jüngsten Zeit gewinnt der pazifische Raum an Bedeutung, und der Lauf der Weltgeschichte wird sich – nach der derzeitigen Mehrheitsmeinung – im 21. Jahrhundert rund um den Pazifik entscheiden.

Dieser populären Ansicht stellt Frankopan ein alternatives Bild gegenüber:

Zunächst betrachtet er die Vergangenheit aus einer erweiterten Perspektive, in der Asien mehr in den Mittelpunkt rückt, und die Auswirkungen von Entwicklungen im fernen Osten auf den Westen stärker berücksichtigt werden.
Dabei hätte ich mir ein tieferes Eingehen auf China und Indien gewünscht, das allerdings für einen Europäer schwierig ist, da viele Dokumente nur in den Originalsprachen vorliegen.    

Dann werden sich – aus Frankopans Sicht – entscheidende Entwicklungen der Zukunft in der „Neuen Seidenstraße“[i] abspielen, die von der Ostsee bis zum gelben Meer reicht. Die Rohstoffvorräte von Zentralasien spielen dabei eine entscheidende Rolle, und bisher wenig beachtete Staaten – wie Aserbaidschan – werden zu Mitspielern beim „Neuen Großen Spiel“[ii].

Die „Neue Seidenstraße“ kann zur wichtigsten Region aufsteigen, und wer Zentralasien – als „Neuem Kernland“ – beherrscht, hat im 21. Jahrhundert die besten Karten.

Unwillkürlich denkt man an die – heute mehr als Pseudowissenschaft und Esoterik gesehene – „Geopolitik“ des 19. und 20. Jahrhunderts, die den Schlüssel zur Weltherrschaft in der Beherrschung Eurasiens, oder auch Zentralasiens als „Kernland“[iii] sah.

Lässt man Frankopans Geschichtsbild auf sich wirken, kommt man zu den folgenden Einschätzungen für die Zukunft:

* Die  „Neue Seidenstraße“ besteht zum größten Teil aus den Gebieten autoritärer oder undemokratischer Staaten, mit denen – aufgrund jüngster Erfahrungen – eine dauerhafte, verlässliche Zusammenarbeit kaum möglich ist.

* Die Europäische Union dürfte im 21. Jahrhundert zu einer Randerscheinung von geringer weltpolitischer Bedeutung absinken.
Es sei denn, die europäischen Politiker überwinden ihre kleinlichen Eitelkeiten, hören mit ihren kindischen, nationalistischen, wahltaktischen Spielchen auf, ersetzen das angenehme Wunschdenken durch realistische Prognosen, schließen sich endlich zu einer „Union“ zusammen, die diesen Namen verdient, und die in Krisen – z. B. beim Ukraine-Krieg – zu den unerlässlichen, schnellen und klaren Entscheidungen fähig wird.

* Der Status der USA, als derzeit noch führende Weltmacht, wird ins Wackeln kommen.
Noch ist nicht abzusehen, wie diese dann reagieren. Bleiben sie bei der – von Frankopan als Engländer ausführlich beschriebenen und bitter kritisierten – Außenpolitik der letzten Jahrzehnte, die in weiten Bereichen von Unverständnis geprägt war, dann werden sie in ernste Schwierigkeiten geraten.

* Das Ansehen des „demokratischen Westens“ hat bei farbigen Völkern sehr gelitten. Nicht zuletzt auch durch die Fehlleistungen europäischer Außenpolitiker.

Ergänzend zu Frankopans „Licht aus dem Osten“ sollte man noch „Zwischen Erde und Himmel“ (Buchbesprechung) vom selben Verfasser lesen.
Dann kommen einem Zweifel, ob sich die Weltgeschichte noch viele weitere Jahrzehnte wie bisher entwickeln kann, oder ob ökologische Katastrophen uns den Handlungsspielraum nehmen.

Lesen Sie dazu auch unter „Buchbesprechungen“. „Der Hass auf den Westen“.


Endnoten:

[i] Seidenstraße = Ein Netz von Karawanenstraßen, dessen Hauptroute den Mittelmeerraum auf dem Landweg mit Ostasien verband. Auch Seuchen fanden diesen Weg. (Wikipedia). Nördlich davon lief der „Steppenschnellweg“, auf dem nomadische Völker (Skythen, Hunnen, Magyaren, Mongolen) in Europa einfielen. Die Schließung dieses Schnellweges im 17./18. Jahrhundert durch Chinesen und Russen wurde in Mitteleuropa kaum beachtet. (Ian Morris, „Wer regiert die Welt?“, Campus, Frankfurt, 2011).

[ii] Als „The Great Game“ („Das große Spiel“) wurde im 19. Jahrhundert der historische Konflikt zwischen dem Vereinigten Königreich und Russland um die Vorherrschaft in Nordost-Asien als „Kernland“ bezeichnet. Im 20. Jahrhundert die Auseinandersetzungen um die Erdölvorräte im Nahen Osten. (Wikipedia).

[iii] In Großbritannien vertrat Halford Mackinder (1861-1947) die „Heartland-Theorie“ mit Eurasien als „pivot aera“ („Kernland“). In Deutschland hatte Karl Haushofer (1869-1946) ähnliche Vorstellungen, die auch die Ideologie der Nationalsozialisten beeinflusst haben sollen.  (Siegfried Hagl, „Der okkulte Kanzler“, Gräfelfing, 2000 und Wikipedia). Eine aktualisierte Fortsetzung dieser verschrobenen Gedanken bringt Alexander Dugin (geb. 1962) mit seinem in Russland einflussreichen Buch „Die Grundlagen der Geopolitik. Die geopolitische Zukunft Russlands“ (1997), das den imperialen Machtanspruch Russlands legitimiert. Dugin gilt als einer der Vordenker Putins. (Martin Schulze Wessel, „Der Fluch des Imperiums“, C. H. Beck, München, 2023).