Zum Oktober 2008:
Veröffentlicht in GralsWelt 49/2008
Vor einhundert Jahren, im Oktober 1908, wurde das vielleicht wichtigste Automobil der Geschichte vorgestellt. Zur Erinnerung an diesen Meilenstein der Technikgeschichte die folgende Erzählung:
„Wir waren eben im Setzersaal der ‚New York Times‘, als Mr. Ochs, unser Boss, auftauchte und sich einen Weg zwischen den Maschinen bahnte. Die Arme hatte er etwas vorgestreckt, als trüge er eine Last vor der Brust, und seine Augen waren weit aufgerissen. Dies ließ darauf schließen, dass er sich in einem Zustand äußerster Erregung befand. Als er sprach war seine Stimme kaum stärker als ein Flüstern: ‚Er ist verrückt, nicht wahr? Findet ihr nicht auch, dass er total übergeschnappt ist?‘
Wir wussten worauf er anspielte. Die große Neuigkeit der Tagespresse war die Ankündigung…dass der Mindestlohn für alle Arbeiter und Angestellten, bis hinunter zu den Putzfrauen, von zwei auf fünf Dollar pro Tag erhöht werde, bei gleichzeitiger Verringerung der Arbeitszeit von neun auf acht Stunden“ (2, S. 9).
Wer war der Verrückte, der im Januar 1914 nach allgemeiner Ansicht dabei war sich zu ruinieren, indem er den üblichen Tageslohn von $ 2,34 mehr als verdoppelte? Es war kein anderer, als der eigenwillige Erfinder, Unternehmer, Philanthrop (Menschenfreund) Henry Ford (1863-1947), der allen Theorien der Ökonomie zum Trotz eine neue Wirtschaftsweise erprobte und etwas niemals zuvor auch nur Angedachtes großzügig in die Praxis umsetzte: Den „Fordismus“.
Viel zu hohe Lohnkosten?
Zur allgemeinen, staunenden Überraschung ging der „Irre“ nicht pleite. Im Gegenteil. Die unerhörte Lohnerhöhung bewirkte einen unglaublichen Anstieg der Produktivität. Die Arbeiter legten ein nie gekanntes Tempo vor, und Henry Ford sagte:
„Der Fünf-Dollar-Satz für den Achtstundentag war einer der besten Schritte, die wir hinsichtlich der Herstellungskosten gemacht haben.“ (2, S. 14).
Da Ford auch der Nutzen der Kunden interessierte, folgten auf die Lohnerhöhung außerdem Preissenkungen.
Taylor und Ford
Der Amerikaner Winslow Taylor (1856-1915) war einer der Begründer der Arbeitswissenschaften, der für seine „wissenschaftliche Betriebsführung“ warb mit dem Schlagwort: „Hohe Löhne – geringe Selbstkosten“ (4, S. 3). Er strebte also nicht nach der viel zitierten „Ausbeutung der Arbeiter“, sondern er wollte alle an den „Segnungen der Technik“ und der von ihr ermöglichten „rationellen Produktion“ teilhaben lassen.
Taylors Prinzip war die strikte Trennung von ausführenden und dispositiven (anordnenden) Aufgaben; allem voran die Zerlegung der Produktionsarbeit in kleinste Schritte, die sich optimieren ließen. Angeblich sollten die einzelnen Arbeitsvorgänge so einfach werden, dass ein „intelligenter Affe“ sie ausführen könnte. Das Mitdenken der Arbeiter war nicht gefragt, sie sollten nur schnell und zuverlässig die ihnen zugewiesenen Arbeitsgänge erledigen. So brauchte man keine gelernten Handwerker, sondern konnte Ungelernten in Stunden die nötige Geschicklichkeit antrainieren. Bei dem Mangel an Fachkräften in den USA war dieses Prinzip eine Voraussetzung für die schnelle Industrialisierung; ob in einer Schuhfabrik, einem Schlachthof, oder bei der Konservenproduktion.
Ford und seine Rationalisierungsingenieure setzten Taylors Ideen in Verbindung mit Mechanisierung und Fließbandfertigung (der ersten der Welt, die am 7. 10. 1913 startete[i]) in bislang ungekannter Weise konsequent um.
Die vielen Arbeitsgänge (das Ford T-Modell bestand aus über 5.000 Teilen), wurden in möglichst kleine Einheiten aufgeteilt, die sich genau analysieren und optimieren ließen, um den bestmöglichen Arbeitsablauf mit geringstem Zeitaufwand zu erreichen.
Ein Beispiel: Die Montage der Pleuelstange ist ein relativ einfacher Vorgang. Zuerst wurden von 28 Männern 175 Stangen an einem Arbeitstag zusammengesetzt. Nach genauer Analyse und Optimierung des Arbeitsablaufes konnten 7 Männer 2.600 Stück pro Tag montieren. (2, S. 21).
Dauerte 1908 der durchschnittliche Arbeitszyklus eines Ford-Arbeiters 514 Minuten bis zur Wiederholung, so waren es 1915 nur 79 Sekunden: Immer die gleichen Handgriffe, die bis zur Perfektion trainiert wurden. So reduzierte sich auch die Zeit für den Zusammenbau eines T-Modells von über 12 Stunden auf knapp 90 Minuten. Im Jahr 1920 lief jede Minute ein T-Modell vom Band.
Die Ford-Arbeiter waren anfangs von der Fließbandarbeit wenig angetan, was zu einer großen Fluktuation führte, die zu der oben genannten exorbitanten Lohnerhöhung beigetragen hat.
Eine solche Arbeit nach Fords Leitsatz „alles lässt sich noch besser machen, als es bisher gemacht wurde“ (1, S. 15) ist eintönig, vielleicht menschenunwürdig…
Die vielen Diskussionen, wie ein menschenwürdiger Arbeitsplatz auszusehen hat, konnten allerdings nicht verhindern, dass heute z. B. in China oder Indien – unter keineswegs besseren Arbeitsbedingungen als vor 100 Jahren bei Ford – 12 Stunden (statt 8 h wie bei Ford) für einen Hungerlohn geschuftet wird.
Das Ford T-Modell
Das erste in Großserie auf Fließband gefertigte Automobil wurde einer der berühmtesten Personenwagen aller Zeiten: Das Ford T-Modell, dessen Tagesproduktion im Jahr 1923 Zehntausend Stück erreichte. Zwischen 1908 und 1927 wurden 15,5 Millionen T-Modelle produziert; ein Weltrekord der 45 Jahre Bestand hatte, bis er unter anderen Voraussetzungen am 17. 2. 1972 vom VW-Käfer überboten wurde[ii].
Die T-Modelle waren alle schwarz und so einfach, dass keine Fachkenntnisse erforderlich waren um sie zu reparieren:
„Wer sich noch an sein Modell T erinnern kann, wird daran denken, wie man den Wagen mit Zange und Schraubenschlüssel auseinander nahm und die alten oder kaputten Teile in einem Sack zum nächsten Ford-Dienst trug, um sie gegen eine kleine Aufzahlung in neue umzutauschen, und dann zuhause alles wieder zusammenzusetzen“ (2, S. 50).
Voraussetzung für diese bequeme Ersatzteilversorgung war die Massenproduktion mit austauschbaren Teilen.
Mit den durch das System Ford möglich gemachten Produktivitätssteigerungen konnten nicht nur für damalige Zeiten exorbitante Löhne gezahlt, sondern auch die Verkaufspreise reduziert werden. So sank der Preis der „Tin-Lizzy“ (Blechliesel) von 850,- auf 295,- Dollar. Bei einem Lohn von 6,- Dollar pro Tag (wie er Ende der 20er Jahre gezahlt wurde) brauchte ein Ford-Arbeiter nur ca. 50 Arbeitstage um mit seinem Brutto-Lohn ein T-Modell bezahlen zu können.
„Befindet sich ein Unternehmen nicht im Wachsen, so befindet es sich im Abnehmen, und ein im Abnehmen begriffenes Unternehmen braucht stets neues Kapital. Die veraltete Geschäftspolitik verlangte, die Preise möglichst so hoch zu halten, wie sie das Publikum gerade noch zu zahlen bereit war. Die wirklich moderne Geschäftspolitik fordert das genaue Gegenteil.
Bankiers und Juristen vermögen diese Tatsache nur selten zu würdigen. Sie verwechseln Stillstand mit Stabilität. Es geht völlig über ihre Begriffe, dass Preise freiwillig herabgesetzt werden können. Aus diesem Grunde bedeutet es geradezu ein Unglück, wenn man den Durchschnittstyp eines Bankiers oder Juristen in die Geschäftsleitung aufnimmt.“
Henry Ford (1, S. 35 f.).
Die Konkurrenz wird wach
Leider konzentrierte sich Henry Ford zu sehr auf die Perfektionierung der Produktion und vernachlässigte die Produktentwicklung. Er scheute Neuentwicklungen, schon weil die durchrationalisierte Massenproduktion auf dem Fließband nicht so einfach auf ein anderes Modell umzustellen war.
Doch der Markt wandelte sich, die Straßen wurden besser, die Automobiltechnik entwickelte sich weiter, die Kunden wurden anspruchsvoller. Dann sah die Konkurrenz in häufigem Modellwechsel ein Mittel, den Markt in Bewegung zu halten, und möglichst die Preise für Autos ständig anzuheben. Das Angebot von Abzahlungsgeschäften sollte die Kunden zum Kauf verführen.
Die minimalistische Konstruktion des T-Modells war zuletzt nicht mehr zeitgemäß. Schließlich, im Jahr 1927, als nicht mehr genug T-Modelle abzusetzen waren, musste die Produktion neun Monate lang stillgelegt werden, bis ein moderneres Automobil entwickelt war: Das Modell A. Henry Ford verlor seine führende Stellung auf dem Automobilsektor mit einem Marktanteil von 55 %.
Der Fordismus scheitert
Fords mutiges (oder verrücktes) Experiment mit Hochlohn und Niedrigpreis zwang auch andere Fabrikanten über Massenproduktion, Fließbänder, Löhne, Gewinne und den Sinn eines Unternehmens neu nachzudenken. Andere Hersteller mussten nachziehen, und der Lebensstandard in den USA stieg.
Gedankt hat Henry Ford dafür niemand. Selbst seine Arbeiter hassten ihn für die verlangte strenge Disziplin. Die Industriellen wollten ihm nie verzeihen, dass er sie aus ihrer selbstgefälligen Zufriedenheit aufgescheucht und gezwungen hatte, ihre Betriebe nach seinem Vorbild umzubauen und konsequent zu rationalisieren.
In der Wirtschaftskrise nach 1929 fuhr sich das System Ford fest. Eine weitere Lohnerhöhung auf 7,- Dollar blieb nur noch eine dramatische Geste, die nicht einmal die Kaufkraft der Ford-Arbeiter steigerte, da die Produktion zurückgefahren werden musste.
Jahrelang hatte Henry Ford die optimistische Überzeugung vertreten:
„Wir brauchen keine Flauten in unseren Unternehmen zu haben. Wir brauchen niemals Arbeitslose zu haben. Unser Rezept für schlechte Zeiten ist Preissenkung und Lohnerhöhung. Und es bedarf nur der Anstrengung einiger großen Unternehmen, um damit die Panik jeder Wirtschaftskrise zu unterdrücken.“ (2, S. 15).
In der großen Flaute, als Märkte weltweit zusammenbrachen und riesige Vermögen am Aktienmarkt verspielt wurden, stieß auch Ford an seine Grenzen. Selbst die Löhne seiner Arbeiter sanken auf 4,- Dollar pro Tag.
Der Fordismus bedeutete höchste Rationalisierung der Fertigung, um Lohnerhöhungen und Preissenkungen möglich zu machen. Diese Methode funktionierte auf einem Wachstumsmarkt mit zunächst fast unbegrenzt scheinendem Potential und riesigen Rationalisierungsmöglichkeiten. Als die Konkurrenz nachgezogen hatte und die Märkte stagnierten, musste Fords altruistische Theorie versagen.
Zuletzt sorgten dann die Gewerkschaften dafür, dass die Ford Motor Company zu einem „ganz normalen“ Industriebetrieb wurde. Eine gewerkschaftliche Mitsprache lehnte der Unternehmer Ford aufs Entschiedenste ab. Er versuchte dem Eindringen von Gewerkschaftsfunktionären mit Bespitzelung der Mitarbeiter zu begegnen und ließ ein Betriebsklima des Misstrauens entstehen.
Schließlich bekamen die Gewerkschaften im Zuge von Roosevelts „New Deal“ – den staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft zur Überwindung der Rezession in den 30er Jahren – größere Rechte. So konnten Gewerkschaftler durch einen Streik die – Henry Ford verhasste – Mitbestimmung bei Löhnen, bei Arbeitszeiten, und beim Arbeitstempo durchsetzen.
Ein menschenfreundlicher Unternehmer
Einst galt Henry Ford als Propagandist des Maschinenzeitalters, der im geschickten Einsatz von Maschinen den einzigen Weg sah, den Wohlstand zu mehren:
„Eine Million Handarbeiter könnten nicht annähernd unsere Tagesproduktion erzeugen.“ (2, S. 20).
Ford stellte Maschinen dicht aneinander, ließ die Werkstücke auf dem Fließband von Maschine zu Maschine wandern, unterteilte die Arbeit in einfachste Schritte. So konnte auch der ungelernte Arbeiter hohe Löhne verdienen, und die Bedürfnisse der Menschen ließen sich mit preiswerten Erzeugnissen in einer Weise befriedigen, an die vordem nicht zu denken war. Fords Name wird für immer ein Symbol bleiben für einen Wendepunkt in der Industriegeschichte.
Wenn heute nach Lösungen für unsere ökonomischen Probleme gesucht wird, denkt keiner mehr an Henry Ford und seine manchmal fragwürdigen Ideen. Viele seiner Erfolge waren nur unter den spezifischen Voraussetzungen seiner Zeit und seines Umfeldes möglich. Das Betriebsklima in seinen Werken war zeitweise katastrophal, und man kann den Menschenfreund Ford nicht unbedingt einen Arbeiterfreund nennen.
Aber wenn wieder einmal „Shareholder-Value über alles“ gepredigt wird, und in Arbeitskräften nur noch „Kostenfaktoren“, keine Menschen mehr gesehen werden, sollte man einen Ausspruch von Henry Ford nachlesen, der den Zielsetzungen moderner Manager zwar konträr ist, aber vielleicht doch ernstzunehmende Gedanken enthält:
„Das Herabdrücken der Löhne ist die leichteste und gleichzeitig die liederlichste Art, um einer schwierigen Situation Herr zu werden, von der Inhumanität ganz zu schweigen…
Würde ich je vor die Wahl gestellt, entweder die Löhne zu drücken oder die Dividenden abzuschaffen, ich würde, ohne zu zögern, die Dividenden streichen. Allerdings ist diese Wahl nicht wahrscheinlich, denn, wie bereits erwiesen, lassen sich durch niedrige Löhne keine Ersparnisse erzielen. Löhne reduzieren ist schlechte Finanzpolitik, da zugleich auch die Kaufkraft reduziert wird. Vorausgesetzt, dass eine führende Stellung Verantwortlichkeiten in sich schließt, so gehört es auch zu den Pflichten ihres Inhabers, dafür zu sorgen, dass das ihm unterstellte Personal die Möglichkeit erhält, sich eine ausreichende Existenz zu gründen.
Es ist etwas Heiliges um den Lohn – er steht für Häuslichkeit, Familie und inneren Wohlstand. Man sollte daher sehr behutsam zu Werke gehen, wenn man an der Lohnfrage rüttelt.“ (1, S. 29).
Technische Daten des Ford T-Modells:
4-Zylinder Reihenmotor mit 2898 cm³
Hub 102 mm / Bohrung 95 mm
Seitengesteuert (SV)
Leistung 17,6 kW (24 PS) bei 1800 U/min
Maximales Drehmoment 100 Nm
2-Gang Getriebe mit Fußbetätigung, getrennter Rückwärtsgang
Höchstgeschwindigkeit ca. 63 km/h
Kraftstoffverbrauch bis 12 Liter/100 km
Gute Bodenfreiheit und geringes Gesamtgewicht erlaubten Fahrten durch unebenes Gelände.
Kaufpreis:
1908: 850,- Dollar (nach heutiger Kaufkraft ca. 18.000,- Euro)
1918: 360,- Dollar
1922: 295,- Dollar
Danach stiegen die Preise durch bessere Ausstattung wieder leicht an.
Literatur:
(1) Ford Henry, Erfolg im Leben, Paul List, Leipzig, o. J.
(2) Garrett Garet, Rasende Räder, Hermann Rinn, München, 1953.
(3) Porázik Juraj, Oldtimer, Weltbild, 1990.
(4) Gottl-Ottilienfeld Friedrich v., Fordismus, Gustav Fischer, Jena, 1926.
(5) Sponsel Heinz, Henry Ford, Sigbert Mohn, Gütersloh, 1960.
(6) www.kfz-tech/de/FordTL.htm.
(7) www.qrst.de/wiki/taylorismus.html.
Endnoten:
[i] Es gab Vorläufer, z. B. das seinerzeit berüchtigte „Tötungsfließband“ Chicagoer Schlachthöfe. Doch nie zuvor wurde ein so kompliziertes technisches Produkt wie ein Automobil in Großserie am laufenden Band hergestellt.
[ii] Die heutige Reihenfolge der meistgebauten Automobile ist: 1. Toyota Corolla; 2. VW Golf; 3. VW Käfer; 4. Ford T-Modell. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Käfer und T-Modell ziemlich unverändert produziert wurden, während Corolla und Golf maßgebliche Weiterentwicklungen und Veränderungen erfuhren.