(Veröffentlicht in GralsWelt 17/2000)
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangte Europa den Höhepunkt seiner Bedeutung in der Welt:
Europäische Wissenschaft und Kultur schienen auf bestem Weg, die „Weltkultur“ zu bestimmen.
Auch das Christentum wollte die noch ausstehenden Völker zu seinem Glauben bekehren. Allerdings waren die christlichen Kirchen in Hunderte von Bekenntnissen zerstritten, und das Verhalten vieler Christen war keine Empfehlung für deren Religion.
Die „zivilisierte Welt“ (dazu zählte man besonders Europa und Nordamerika) wollte die „Eingeborenen“ und die „Kolonialvölker“ (darunter alte Hochkulturen wie Indien und China) dominieren. Am deutlichsten zeigte sich das in Afrika. Dieses war zum größten Teil zwischen europäischen Nationen, bzw. deren Einflusszonen aufgeteilt.
Denn alle Staaten erstrebten Kolonien, die billige Arbeitskräfte, preiswerte Rohstoffe und Absatzmärkte für die heimische Überproduktion versprachen.
Als Kolonialmächte gelten besonders England, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Spanien, Portugal; für wenige Jahrzehnte auch Deutschland und Italien. Oft wird übersehen, dass Sibirien und der Kaukasus russische, die Philippinen Kolonien der USA waren und z. T. noch sind.
Europa und die USA hatten gemeinsame Wertvorstellungen; beide fühlten sich zum Beispiel der christlichen Ethik verpflichtet.
Die europäischen Staaten waren in der Mehrzahl aufgeklärte Monarchien mit Parlamenten, deren Einfluss zunahm, so dass sie sich politisch den demokratischen USA näherten. Doch noch immer gab es Repressalien gegen politisch Andersdenkende und Unterdrückung ethnischer Minderheiten (z. B. in Russland), so dass nach wie vor Auswanderer aus politischen oder ökonomischen Gründen ein besseres Leben in Übersee suchten.
Kriege galten als legitimes Mittel souveräner Staaten; was auf dem diplomatischen Parkett keine Lösung fand, wurde auf dem „Feld der Ehre“ ausgefochten. In fast jedem Jahr war irgendwo auf der Welt Krieg oder Aufruhr.
Die Wirtschaft entwickelte sich. Neben den „klassischen“ Wirtschaftszweigen wie der Bauwirtschaft, dem Bergbau, der Landwirtschaft, dem Schiffbau und der Textilindustrie, bekamen Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik zunehmende Bedeutung. Die vielleicht wichtigsten Entdeckungen der Zeit brachte die Mikrobiologie, die nach 1870 endlich die Ursachen von Infektionskrankheiten erkannte und Wege für die Vermeidung von Seuchen fand.
Von Kolonialmächten wie Großbritannien wurde eine Vorstufe der heutigen „Weltwirtschaft“ praktiziert, und in England feierte man die „freie Wirtschaft“, während andere Staaten, darunter auch das Deutsche Reich, mit Zöllen ihre Fabriken gegen unliebsame ausländische Konkurrenz schützten.
Besonders in den USA entstanden Monopole, die nach totaler Marktmacht strebten und teilweise durch gesetzliche Maßnahmen eingedämmt werden mussten.
In Europa wie in den USA gewannen sozialistische Ideen auch politischen Einfluss. Arbeiterbewegungen entstanden, Streik und Aussperrung verhärteten das Verhältnis zwischen „Arbeiter“ und „Fabrikherr“ im Kampf um sozialen Ausgleich, und es dauerte, bis Streiks als legitim anerkannt waren und nicht mehr gewaltsam unterdrückt werden konnten.
Alle diese Spannungen wurden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts deutlich. Sie ließen die Probleme des kommenden 20. Jahrhunderts ahnen:
* Die von Karl Marx (1818-1883) prophezeite Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit.
* Die sozialistische Revolution.
* Krieg um Absatzmärkte.
* Machtkampf zwischen Unternehmen und Gewerkschaften.
* Ein „Weltkampf um Rohstoffe“.
* Der von Nationalisten erwartete „Kampf um Raum“.
In Mitteleuropa wurden die ohnehin labilen Machtgleichgewichte zwischen den Staaten noch zusätzlich belastet: Das Deutsche Reich entwickelte sich nach seiner Einigung von 1871 zu einer führenden Militär- und Wirtschaftsmacht, die Anspruch auf Kolonien erhob und im Konzert der Großmächte den ihr gebührenden Platz beanspruchte.
Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den Staaten nahm an Härte zu. Noch beruhte die wirtschaftliche Basis vorwiegend auf Rohstoffen, die sich im eigenen Land fanden, z. B. Kohle und Stahl. Doch es war abzusehen, dass Importprodukte wie Kautschuk und Erdöl zunehmende Bedeutung erlangen würden. Jede Großmacht musste sich den Zugang zu diesen Ressourcen sichern, um sich zu behaupten.
So überschnitten sich wirtschaftliche und politische Ziele der Nationen. Ökonomische Zwänge, politische Parolen, Machtstreben, soziale Spannungen, Animositäten zwischen den Völkern wurden in allen Staaten von Propagandisten für ihre Zwecke ausgeschlachtet. Die verantwortlichen Staatsleitungen wurden durch die Vielfalt von Interessen, Meinungen, Problemen meist überfordert.
Dem einzelnen Bürger war von diesen globalen Herausforderungen meist wenig bekannt; er konzentrierte sich auf sein persönliches Umfeld. Die Regierungen forderten keine „politische Willensbildung“, wie sie in modernen Demokratien erwünscht ist; denn viele Staatschefs dachten noch aristokratisch und orientierten sich an der Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts.
So wurde – auch in Deutschland – verdrängt, wie labil die Situation, wie gefährdet das so selbstbewusst und mächtig auftrumpfende Deutsche Reich war. Auch der 1888 gekrönte Kaiser Wilhelm II. verstand weder den schwierigen Weg zur deutschen Einheit noch die komplizierte Lage eines mit Misstrauen beargwöhnten, eben erst entstandenen Großreiches im Herzen Europas.
Auch andere Staaten standen unter Druck:
In Russland blieben überfällige Reformen aus, und kurzsichtige Patrioten wollten durch einen Krieg die inneren Schwierigkeiten überspielen.
Österreich-Ungarn drohte unter dem Unabhängigkeitsdrang seiner verschiedenen Nationalitäten zu zerbrechen.
Frankreich schrie nach Rache für die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.
England hatte Probleme in den Kolonien, und seine Industrie spürte die deutsche Konkurrenz.
Italienische Nationalisten verlangten das „Alto Adige“ (Südtirol).
Irland wollte unabhängig werden.
Der Balkan war ein Pulverfass.
Blinder Nationalismus verdrängte das Wissen, dass alle europäischen Völker eine gemeinsame Kultur verbindet und nur eine friedliche Zusammenarbeit eine erfreuliche Zukunft für sie verspricht.
Dann taumelten die verantwortlichen Entscheidungsträger, von Tagesproblemen absorbiert, halbblind in die „Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts“. (Vgl. unter „Geschichte).
Lesen Sie dazu auch „Weimar musste nicht scheitern“ unter „Geschichte“.