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Geschichte/Historik

Das letzte Hindu-Königreich

(Veröffentlicht in GralsWelt 18/2001)

Von den 14 Bergen unserer Erde, die über 8.000 Meter hoch sind, liegen acht – darunter der Sagarmantha (Everest) mit 8.848 Metern – ganz oder teilweise in Nepal, dem letzten Hindu-Königreich. Einem gebirgigen Land von fast 148.000 km² Fläche mit etwa 25  Millionen Einwohnern, einst das Land Buddhas, heute ein Anziehungspunkt für Trekker.

Zwei Kontinentalplatten prallen im südlichen Zentralasien aufeinander. Der indische Subkontinent stößt an die eurasische Platte und schiebt das höchste Gebirge der Erde empor: den Himalaya. Geologisch gesehen ist dieses junge Gebirge noch in Bewegung. Der indische Subkontinent wandert fünf Zentimeter pro Jahr weiter voran, was sich für die Einwohner der Gebirgsregionen in häufigen Erdrutschen und periodisch auftretenden Erdbeben entlang der Hauptverwerfungslinien bemerkbar macht. Hier, zwischen der indischen Tiefebene, mit malariaverseuchten Sümpfen, und den höchsten Gipfeln der Erde, zwischen Indien und China (Tibet) liegt das

Königreich Nepal.

Abgesehen von einem schmalen Streifen an der südlichen Grenze zu Indien, der Terai-Ebene mit berühmten Wildreservaten, ist das ganze Land gebirgig. In den tropischen Breiten Nepals werden an Steilhängen im Terrassenbau bis auf 4.000 m Meereshöhe Kartoffeln und Gerste angebaut. Die hier lebenden Volksstämme, darunter die berühmten Sherpas, sind an das harte Leben im Hochgebirge angepasst.

Ein Land in Abgeschiedenheit

Wer mit den Flugzeug in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, ankommt, ist sich der Abgeschiedenheit seines Reisezieles kaum bewusst. Der Flugplatz der Viertelmillionenstadt hat nichts Besonderes. Taxis, Busse, Privatautos warten auf Passagiere. Im Stadtverkehr fallen dann viele Kleinmotorräder und motorisierte Rikschas auf. Mit ihren Zweitaktmotoren stoßen sie blaue Wolken aus dem Auspuff, die mit dem Dieselqualm von Uraltlastwagen wetteifern. Die Luftverschmutzung in Katmandu wird angeblich nur von Mexico City übertroffen.

Zu den ersten Eindrücken von Kathmandu gehören auch alte Holzhäuser mit verfallenden, kunstvollen Schnitzereien, die nach und nach von Betonbauten abgelöst werden.

Mit der Eisenbahn ist Kathmandu nicht erreichbar. Die Straßen aus Indien führen über vergleichsweise nicht besonders hohe, dafür aber schwer passierbare Gebirge mit steilen und tiefen Schluchten. Während der Monsunzeit, zwischen Juni und September, sind diese Straßen oft wochenlang unpassierbar. Es gibt auch noch eine alte Seilbahn aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die in feudalen Zeiten gebaut wurde, um die unentbehrlichsten Güter zwar jederzeit, doch zu horrenden Kosten ins Land zu bringen. Und der Weg von Norden, aus China, muss das höchste Gebirge der Erde überwinden, das nur an wenigen Pässen überschreitbar ist. Nur eine einzige, nicht immer befahrbare Passstraße führt von Tibet nach Nepal.

Durch Nepal liefen schon vor anderthalb Jahrtausenden wichtige Handelswege, und seine Einwohner fielen als geschickte Handwerker und kluge Kaufleute auf. Das wichtigste Zentrum ist das Kathmandutal, das in 1.500 m Meereshöhe gute Siedlungsbedingungen und fruchtbaren Boden bietet. Hier entstanden schon früh erste Königreiche, von denen die Dynastie der Malla (1200-1769) zu erwähnen ist.

Ein Malla-Herrscher teilte 1482 sein Land zwischen seinen Kindern, drei Brüdern und einer Schwester auf. Jeder erhielt eine Stadt im Kathmandutal: Kathmandu, Baktapur, Lalitpur (heute Patan) und Banepa. Die Rivalitäten zwischen diesen Fürstenhäusern brachten über drei Jahrhunderte einen Wettbewerb der Künste. Denn jeder wollte die großartigste Hauptstadt besitzen.

So entstanden drei bezaubernde Städte, deren Besichtigung ein Muss für jeden Touristen ist: Kathmandu, Baktapur und Patan. Es wird gesagt, es gäbe keinen zweiten Platz auf der Erde, an dem so viele Kunstschätze so nahe versammelt seien. Diesen wunderbaren historischen Städten droht nun der Verfall. Die Holzbauten mit ihrem kunstvollen Schnitzwerk, vom Monsunregen und der verpesteten Luft schwer beansprucht, verlangen dauernde Pflege, die das arme, übervölkerte Entwicklungsland nicht leisten kann. Die besondere Kultur eines Grenzlandes, in dem sich Einflüsse aus Indien, Tibet, China zu einem harmonischen nepalesischen Stil verbanden, droht trotz Hilfe der UNESCO zu vergehen.

Die Zersplitterung des Landes im 15. Jahrhundert lockte räuberische Fürsten aus den umliegenden Bergen an. Einer von diesen setzte sich schließlich durch. Nach 25 kriegerischen Jahren einte Prithvi Narayan Shah 1769 über 60 verfeindete Staaten und Fürstentümer unter seiner Herrschaft und etablierte die heute noch regierende Shah-Dynastie.

Unter seinen Nachfolgern gingen die Eroberungen weiter, bis es 1814 zum Zusammen stoß mit der englischen ostindischen Kompagnie kam. Ein heftiger Krieg, in dem die Nepali ihre kämpferischen Qualitäten bewiesen, endete 1816 mit einem Vertrag, der die bis heute bestehenden Grenzen festlegte. In diesen Kämpfen machten die Engländer auch erste Bekanntschaft mit den legendären Gurkhas, die dann noch im 2. Weltkrieg in der englischen Armee dienten.

Das Land Buddhas

Nepal, das Land, auf dessen Boden vor 2.500 Jahren Buddha geboren wurde (in Lumbini im Terai), ist seither ein Hindu-Königreich, das sich lange fremden Einflüssen verschloss.

Im Jahr 1846 gab es einen blutigen Staatsstreich eines Generals, der sich und seiner Familie die sogenannte Rana-Herrschaft bis 1951 sicherte. Dann kam das Königshaus wieder an die Macht.

Bis 1949 war Nepal das größte bewohnte Land, das von Europäern nicht erforscht war. 1950 durften Franzosen einreisen, die am 3. Juni als ersten Achttausender den Annapurna1 (8.091 m) erstiegen. Weitere Expeditionen und eine ständig steigende Zahl von Trekkern konnten folgen.

Unter dem König durften politische Parteien entstehen, und 1991 löste eine konstitutionelle Monarchie das Hindu-Königreich ab. Nach wie vor wird aber der König als Inkarnation Wishnus verehrt.

Heute leben Hindus und Buddhisten in Nepal friedlich zusammen, und viele Nepali fühlen sich beiden Religionen verbunden. Es gibt sogar Tempel, in denen beide, Hinduisten und Buddhisten, ihre Rituale zelebrieren. Der schon immer vorhandene Einfluss des tibetanischen Buddhismus ist gewachsen, nachdem der Dalai Lama 1959 aus Tibet fliehen musste und ihm viele seiner Anhänger nach Indien und Nepal ins Exil folgten.

Die aus Dutzenden verschiedener Volksstämme bestehende Bevölkerung wirkt friedlich und freundlich. Sogar die als Krieger gefürchteten Gurkhas sind bei näherem Kennenlernen nette, gastfreundliche Menschen.

Das Land der höchsten Berge lockt jährlich Hunderttausende von Touristen an, die dort einen ebenso preiswerten wie exotischen Urlaub verbringen. Neben Königspalästen, Tempeln Stupas im Kathmandutal lockt Trekking auf alten, für kein Fahrzeug geeigneten Handelswegen. Fernab der Zentren fühlt man sich ins Mittelalter versetzt und genießt das einfache Leben. Allerdings meiden Touristen die Regenzeit mit ihren tropischen Niederschlägen, während der in den Bäumen aggressive Blutegel lauern.

Für Bergsteiger gibt es eine Vielzahl von Gipfelzielen: Von der gemütlich erreichbaren Aussichtsplattform in 3.000 m Höhe, über noch fast bequem ersteigbare 4.000er und 5.000er, bis zum Maximum des alpinistisch Möglichen.

Heilige Kühe

Wir Europäer haben oft Probleme mit der hinduistischen Verehrung der Kühe, die auch im Hindu-Königreich Nepal praktiziert wird. In Indien wuchs schon vor 2.000 Jahren die Bevölkerung, und der Platz für Rinder, deren Fleisch kein Hindu isst, wurde knapp. Daher erklärte die höchste Kaste der Brahmanen die Kühe für heilig, um sie vor dem Aussterben zu retten. Im Laufe der Zeit hat sich seitdem ein Kult um die Kuh entwickelt. Es gibt Hindu-Priester, die in der Kuh den einzigen Weg zur Erlösung sehen. Für sie ist die Kuh ein Symbol des Hinduismus und wichtiger als der Mensch. Jeder Körperteil der Kuh, außer dem Schwanz, gilt als heilig, denn in ihr wohnen angeblich 300 Millionen Götter. Kuhmilch trinken soll weise machen und rein erhalten. In der Ayurveda-Medizin ist Kuh-Urin ein wichtiges Heilmittel.

Noch heute werden in Indien und Nepal Kühe von Staat und Religion beschützt. Autofahrer tun gut daran, auf die unbehelligt auch auf dicht befahrenen Straßen herumstreunenden Kühe zu achten. Beim Überfahren einer Kuh droht in Nepal:

* Ist der Fahrer unschuldig, muss er das Begräbnis der Kuh bezahlen, das etliche Monatsgehälter eines Normalverdieners kostet.

* Ist der Fahrer schuldig, drohen ihm 15 Jahre Gefängnis.

Ich würde in diesem Land mit Linksverkehr lieber nicht selbst fahren.

Nicht zu übersehen sind wirtschaftliche Probleme. Aufgrund seiner abgeschiedenen Lage kann Nepal trotz langer handwerklicher und kaufmännischer Tradition kaum zum Industrieland aufsteigen, um die schnell wachsende Bevölkerung hinreichend zu versorgen. Tourismus und Manufakturen mögen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten mildern, doch sie verschärfen die ökologische Situation.

Kaum ein Tourist betritt eine der Manufakturen, in denen mehr als 150.000 Kinder, anstatt eine Schule zu besuchen, unter unmenschlichen Bedingungen für einen lächerlichen Lohn Teppiche für den Export knüpfen, nach Entwürfen westlicher Innenarchitekten. An Umweltschutz und den primitivsten Arbeitsschutz wird hier nicht gedacht; denn der Export, an dem Kaufleute und Fabrikanten verdienen, hat Vorrang. Längst reicht auch die eigene Rohstoffproduktion nicht mehr aus. Wolle, Chemikalien zum Färben werden importiert, und die klassische nepalesische Teppichkunst verschwindet.

Die Landwirtschaft in den gut zugänglichen Tälern, wie dem Kathmandutal, verliert laufend wertvolle Felder an die wachsenden Städte.

In den schwierig zu bewirtschaftenden Gebirgsregionen ist das Leben hart, technische Hilfsmittel für die Landwirtshaft wie für das tägliche Leben fehlen. Die zu große Bevölkerungsdichte erzwingt Raubbau; so wird zum Beispiel doppelt so viel Holz verbraucht, wie nachwachsen kann. Denn Feuerholzsammeln, Blätter und Zweige als Viehfutter einbringen, ist tägliche Bauernarbeit, für die oft Kinder zuständig sind.

Asketen

Jogis (Meister des Joga), Lamas (tibetisch-buddhistische Priester), Sadhus (Hindu-Bettelmönche) haben einen legendären Ruf, und in der Literatur werden ihnen die unglaublichsten magischen Kunststücke zugeschrieben. Dass Sadhus in Nepal sehr gut abgehärtet sein können habe ich beim Pashupatinath-Tempel, einem wichtigen Hindu-Heiligtum, selbst beobachten können. Der, viele Jahre in Nepal stationierte, Alpenvereins-Bergführer Siggi Rottlingshöfer erzählte uns von einem Jogi, den er in 5.000 m Höhe nackt, nur mit Asche eingerieben, in einer Gletscherspalte stehend antraf. Das klingt glaubhaft, wenn man bei Alexandra David-Neel liest, wie es durch okkulte Schulung möglich wird, den nackten Körper bei winterlicher Kälte in den Hochebenen Tibets warm zu halten (1, S.182 f.).

Neuerdings wurde sogar die Fähigkeit eines Jogi, im kataleptischen Schlaf seine Lebensfunktionen zu verlangsamen und in einem luftdicht verschlossenen Sarg zu überleben, wissenschaftlich untersucht (2, S. 81). Asiatische Meister des Okkulten scheinen über Fähigkeiten zu verfügen, die im Westen unbekannt sind. In der einschlägigen Literatur dürften aber auch Übertreibungen nicht fehlen. So konnte zum Beispiel bis heute niemand den sagenhaften „indischen Seiltrick“ vorführen, obwohl schon Königin Viktoria von England (1819-1901) einen Preis von 2.000 Pfund dafür aussetzte, und ein englischer Zauberkünstler 5.000 Pfund, ein italienischer gar 10.000 Pfund für die Vorführung dieses Kunststücks boten. Ein Nepal-Reisender wird in der Regel nur sogenannte „Berufs-Sadhus“ antreffen, die nichts weiter sind als Bettler, die das Image des Asketen missbrauchen.

In den meisten Behausungen auf dem Land wird auf primitiven Lehmherden gekocht, sogar ein Schornstein fehlt. In verräucherten Hütten holen sich besonders Kinder Atemwegserkrankungen. Schulausbildung, Krankenhäuser, sonstige Sozialeinrichtungen sind unterentwickelt, denn überall fehlt es an Kapital für die nötigste Infrastruktur. So sind zum Beispiel weite Regionen für Fahrzeuge unerreichbar. Trekker genießen es, tage- oder wochenlang auf Muli- und Yakpfaden zu wandern und sich im Notfall auf den Hubschrauber zu verlassen. Die Erschließung eines Landes ohne Straßen ist aber problematisch.

Sicher gibt es auch erfreuliche ökologische Ansätze, wie das „Annapurna Conservation Area Project“ (ACAP) um die Mustersiedlung Ghandrung. Internationale Gesellschaften arbeiten an den nötigsten Verbesserungen, wie dem Bau von Toiletten und der Aufforstung der Himalaya-Wälder, doch nachhaltige Erfolge auf breiter Front sind kaum zu erhoffen.

So können die Prognosen für das landschaftlich einmalig schöne Gebirgsland mit seinen liebenswerten Menschen nicht besonders günstig sein: Die mühsam errungenen Fortschritte, zum Beispiel beim Bau von kleinen Wasserkraftwerken, werden von der Flut der weiter wachsenden Bevölkerung eliminiert. Es ist zu befürchten, dass sich die Population innerhalb der kommenden 30 bis 40 Jahre noch einmal verdoppeln kann. Wir leben ja in einer Zeit, in der eine schnell wachsende Bevölkerung eher zur Last wird, als den echten Reichtum des Landes zu bilden. Selbst in entwickelten Staaten klingt das Bibelwort „…ein Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (Luk. 10,7) manchmal wie Hohn.

Das Leben der zu großen Bevölkerung wird dann in den Hochlagen noch schwieriger, und das Überleben in den überfüllten Städten ohne Kanalisation, mit unzureichender Elektrizitäts- und Wasserversorgung muss für Viele zu einer kaum noch zu bewältigenden Aufgabe werden.

Literatur zu Nepal:

Choegyal, Lisa. „Nepal“, RV  Reise- und Verkehrsverlag, Berlin, 1993.

Massonaud, Chantal: „Nepal“, in „Asien“, Benedikt Taschen Verlag , Köln, 1994.

Nelles Guide „Nepal“, Nelles Verlag, München 1995.

Literatur zu „Asiatische Asketen“:

(1) David-Neel, Alexandra: „Heilige und Hexer“, Brockhaus, Wiesbaden, 1981.

(2) raum & Zeit Heft 93/1991, Seite 81

(3) Zwerenz, Gerhard: „Magie, Sternenglaube, Spiritismus“, Fischer, Fankfurt, 1974.

Nachtrag 2015:

Leider trafen das arme Nepal zu Beginn des 21. Jahrhundert schwere Katastrophen:

* Im Juni 2001 gab es innerhalb der Königsfamilie eine Bluttat, der König Birendra Bir Bikram Shah zum Opfer fiel. Nachfolger wurde zunächst sein Bruder. Doch das Königreich konnte sich davon nicht mehr erholen.

Es kam zu Aufständen der Maoisten und einem blutigen Guerillakrieg mit zahlreichen Toten. Im April 2007 zwang ein Generalstreik den König zum Rücktritt. Nepal wurde eine Republik. Das Hindu-Königreich gibt es nicht mehr.

* Im April 2015 wurde Nepal von einem schweren Erdbeben erschüttert. Es gab mehr als 8.600 Tote und schwere Schäden an historischen Bauwerken. Deren Restaurierung kann das arme, übervölkerte Nepal aus eigener Kraft kaum leisten. 

* Die Bevölkerung ist bis 2021 auf 30 Millionen gewachsen.