Utopie und Großversuch „Globalisierung“
(Veröffentlicht in GralsWelt Themenheft 3/1999)
Kein Mensch lässt sich gerne beengen, in seiner Bewegungsfreiheit behindern oder gar einsperren. Die Freiheit durch offene Grenzen begann im 20. Jahrhundert Wirklichkeit zu werden; seither ist auch der Begriff „Globalisierung“ in aller Munde. Dabei geht es um mehr als nur um das Recht des Einzelnen, z. B. überall in der Welt Urlaub machen zu können: Angestrebt wird ein erdumspannender Wirtschaftsraum, in dem sich die Leistungsfähigkeit der Menschen aller Völker entfalten soll. Doch die Verwirklichung dieser Utopie ist vielen Menschen unheimlich. Wir gehen der Frage nach, ob die vielbeschworene Globalisierung tatsächlich notwendig, sinnvoll und unaufhaltsam ist, ob sie wirklich „Wohlstand für alle“ bringt – oder ob das Wirtschaftlichkeitsdenken nicht schon jede Humanität verdrängt.
„Beiläufig bemerkt, hängt es gar nicht vom guten Willen der einzelnen Kapitalisten ab, ob sie sich in diesen Kampf einlassen wollen oder nicht, da die Konkurrenz selbst den philanthropischsten unter ihnen zwingt, sich seinen Kollegen anzuschließen und so lange Arbeitszeiten zur Regel zu machen wie diese.“ Friedrich Engels (1820-1895).
Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer, Massenmedien scheinen sich einig: Die Globalisierung der Wirtschaft wird kommen; niemand kann sie aufhalten, und sie soll Chancen für alle Völker bringen. Die dazu nötige Öffnung der Grenzen, die Beseitigung von Zoll- und Handelsschranken, ist allerdings kein Naturereignis, sondern politischer Wille.
Das bedeutet: Die Globalisierung stellt einen „Großversuch“ dar, für den sich Menschen entschieden haben – und Menschen können ihre Entscheidungen auch revidieren…
Das Verlangen nach der Globalisierung der Wirtschaft kommt weder von den Verbrauchern, denen man bessere Güter zu günstigeren Preisen verspricht, noch von Arbeitnehmern, die um ihre Arbeitsplätze fürchten. Die Globalisierungs-Propagandisten kommen vor allem aus der Industrie (nebst industriefreundlichen Wissenschaftlern, Medien und Politikern); denn die Produzenten stehen unter einem Globalisierungszwang, der zwei Hauptursachen hat:
Die Produktlebensdauer sinkt:
Jeder Konsument rechnet heute damit, dass ununterbrochen neue oder verbesserte Produkte auf den Markt kommen. D. h. die „Produktlebensdauer“, also die Zeit, während der sich eine Industrieware profitabel absetzen lässt, sinkt. 1974 lag die Laufzeit eines Industrieproduktes im Durchschnitt bei etwa 12 Jahren, heute ist sie auf unter 6 Jahre gesunken.
Die Innovationskosten steigen:
Die Aufwendungen für die Entwicklung eines neuen oder die Verbesserung eines laufenden Produktes sind stark gestiegen. Die zunehmenden Kosten für Forschung und Entwicklung lassen sich während der immer kürzeren Produktlaufzeiten nur verdienen, wenn der Absatz in einem Maße steigt, das nur auf riesigen internationalen Märkten erreichbar scheint.
So steht die Industrie unter dem Zwang, entweder „zu wachsen“ oder „zu weichen“; globale Expansion am „Weltmarkt“ ist das Zauberwort, das helfen soll, die steigenden Innovationskosten zu verkraften.
Den „Weltmarkt“ hat übrigens nicht erst das 20. Jahrhundert erfunden. Schon zu römischer Zeit gab es Handel zwischen Europa und China, und im Mittelalter war die „Seidenstraße“ ein wichtiger Handelsweg zwischen dem Fernen Osten und dem Abendland, auf dem auch Marco Polo (1254-1324) reiste. Dieser Warenaustausch war zwar wichtig, doch verhältnismäßig gering, schon weil die Transportkosten (ganz abgesehen von sonstigen Risiken wie Schiffbruch oder Raub) sehr hoch waren.
Seit Erfindung der Dampfmaschine wird der Transport nun laufend billiger, wie der folgende Vergleich zwischen 1930 und heute zeigen kann:
Seefracht: ca. ½ der Kosten von 1930
Luftfracht ca. 1/6 der Kosten von 1930 Telekommunikation ca. 1/1000 der Kosten von 1930
Diese Preise sinken weiter und machen es möglich, nicht nur Bier (über 90% Wasser) von Ostfriesland nach Bayern zu fahren, sondern Stahl aus Indien, Autos aus Korea, Spielzeug aus China in alle Kontinente zu verschiffen. Die Wirtschaft ist längst auf dem Weg zur weltweiten Vernetzung, wie einige herausgegriffene Aspekte zeigen können:
Warenaustausch:
Auf dem Weg zur Globalisierung hat sich der Welthandel zwischen 1984 und 1996 verdoppelt; der grenzüberschreitende Handel ist von 1950 bis 1993 dreimal so schnell gestiegen wie die Warenproduktion.
Kapitalverkehr:
Ein besonderes Problem ist der Transfer von Kapital, der längst unvorstellbare Ausmaße angenommen hat: Auf den Devisenmärkten werden täglich ca. 1.500 Milliarden Dollar umgesetzt. Das ist etwa 70mal so viel wie der tägliche Export von Waren oder Dienstleistungen. Dieser Kapitalverkehr spielt sich vorwiegend auf elektronischen Medien ab. Er ist zum größten Teil reine Spekulation, mit der die Devisenmärkte erschüttert und Finanzkrisen ausgelöst werden können. Geht es um Investitionen, dann fließt das nötige Kapitel in das Land, in dem die höchsten Renditen erwartet werden.
Global Sourcing und Outsourcing:
Konzerne suchen überall in der Welt nach den günstigsten Lieferquellen (global sourcing). „Von außen“ wollen sie alles beziehen, was sich billiger einkaufen als selbst produzieren lässt (outsourcing). Ohne billigen Transport, ohne billiges Öl, ohne Freizügigkeit im Waren- und Kapitalverkehr wäre beides nicht möglich.
Globalisierungsbonus:
Nach der herrschenden Lehrmeinung sollte die Globalisierung insgesamt Vorteile bringen: Die Waren werden billiger, zum Vorteil der Verbraucher. (Doch womit will der Käufer die Ware bezahlen, wenn sein Arbeitsplatz in ein fernes Land verlegt wurde?).
Die internationale Konkurrenz zwingt zudem jeden Marktteilnehmer zu äußersten Anstrengungen und höchsten Leistungen. Innovationsfähigkeit, Erfindergeist, Service, Produktqualität, Preiswürdigkeit nehmen überall auf der Welt zu, so dass das Bruttosozialprodukt in allen Ländern steigen muss.
Folgt man diesen neokapitalistischen Theorien, dann wäre die Globalisierung zu begrüßen, weil sie insgesamt Vorteile bringen soll. Ob die Menschen diese Form der Weltwirtschaft wollen, ob es „gut“ ist, wenn Kleinbauern der Konkurrenz der Großgüter weichen und in die Slums der Großstädte abwandern, steht bei Ökonomen nicht zur Debatte; sie sind auf das Bruttosozialprodukt fixiert.
In naher Zukunft wird sich also jedes – zumindest jedes größere – Unternehmen einem weltweiten, zunehmend härteren Konkurrenzkampf stellen müssen; denn die angestrebten, zum Teil (z. B. innerhalb der EU) schon gegebenen, offenen Grenzen bringen den „grenzenlosen“ Wettbewerb.
Die miteinander konkurrierenden Volkswirtschaften bringen sehr unterschiedliche technische und zivilisatorische Voraussetzungen mit. Sie haben verschiedene Kulturen, Religionen, ethische Wertmaßstäbe und nicht zu vergleichende Sozialstandards. Doch solche „Feinheiten“ sind für die Warenmärkte ohne Bedeutung. Welcher Verbraucher fragt schon, unter welchen Bedingungen Teppiche in Nepal, Textilien in Indien oder Spielzeug in China gefertigt werden. Man freut sich über die niedrigen Preise und ist zufrieden, so lange man selbst noch genügend Geld in der Tasche hat.
Früher oder später – wenn die Globalisierung vollendet ist – werden dann alle Volkswirtschaften untereinander in gnadenlosem Wettbewerb stehen: Wenig entwickelte Länder mit Niedriglöhnen ohne soziale Absicherung, und Industrieländer mit Spitzenlöhnen und bequemen Sozialstandards.
Wie mag dieser „Kampf aller gegen alle“ sich gestalten? Wird er zum Segen oder zum Fluch? Oder werden – frei nach Darwin – nur die Tüchtigsten überleben?
Humanität jedenfalls wird man in einer uneingeschränkt liberalisierten Marktwirtschaft wohl vergebens suchen. Dem rücksichtslosen Gewinndenken internationaler Konzerne müssten eigentlich die Staatsregierungen Grenzen setzen; doch dafür ist es möglicherweise schon zu spät…
Die rasante Entwicklung unserer Zivilisation während der vergangenen zwei Jahrhunderte wird als „technische Revolution“ verstanden. Nun stehen wir mitten in einem neuen Wandlungsprozess, der mit nie gekanntem Tempo in doppelter Hinsicht die Welt verändert:
Globalisierung der Wirtschaft:
Die hierfür nötigen Voraussetzungen wurden von Menschen geschaffen, und die Globalisierung ist von den Verantwortlichen gewollt. Allerdings entwickelt diese „globale Revolution“ – wie alle Revolutionen – ein unkontrollierte Eigendynamik, deren Ergebnisse niemand kennt.
Globalisierung der Probleme:
Auch wichtige Weltprobleme, wie die Erhaltung einer Leben spendenden Umwelt oder die Eindämmung der Bevölkerungsexplosion, verlangen globale Lösungen. Die Globalisierung der Probleme ist eine ungewollte und unerwartete Folge der technischen Revolution.
Die Welt wird nie mehr so sein, wie sie während zurückliegender Epochen war, und deren überkommene Gewohnheiten, Rezepte, Theorien passen nicht für die Weltprobleme des 21. Jahrhunderts.
Jahrhunderte lang hatte der technisch und zivilisatorisch überlegene „Norden“ erst vom Kolonialismus und dann vom Welthandel zu Lasten des weniger entwickelten „Südens“ profitiert. Seit kurzem sind nun die Leistungen der technischen Revolution allen Völkern zugänglich:
* Das technische Wissen ist weltweit verbreitet. In allen Kontinenten gibt es bestens ausgebildete Wissenschaftler, die z. B. in Nordkorea Raketen, in Pakistan Atombomben, in Indien Computersoftware usw., usw. entwickeln. Der technologische Vorsprung des Abendlandes schrumpft und ist auf manchen Gebieten (z. B. gegenüber Japan) nicht mehr vorhanden.
* Kapital ist reichlich vorhanden und hat sich bei relativ wenigen Kapitaleignern angesammelt. Diese suchen günstige Anlagemöglichkeiten und zögern nicht, in exotische Länder zu investieren, sofern interessante Renditen zu erwarten sind.
* In vielen Ländern gibt es ein Heer von Arbeitslosen, die für fast jeden „Hungerlohn“ arbeiten werden.
* Die Konzerne sehen sich gezwungen, alle möglichen Einsparungsmöglichkeiten auszunutzen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Dazu gehört die Auslagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer.
* Weniger entwickelte Länder erwarten, dass Produktionen in ihr Land verlagert werden. Nicht allein, um Arbeitsplätze zu gewinnen, sondern auch wegen des damit verbundenen Technologietransfers. Wer sich dagegen sträubt, verliert den betreffenden Markt an die flexiblere Konkurrenz.
* Moderne Technologien, Einsatz von Industrierobotern und Computern im Fertigungsprozess lassen „menschenleere“ Fabriken entstehen, die nur wenige, hochqualifizierte Techniker benötigen. Was soll mit den „von der Produktion freigestellten“ Millionen von Menschen geschehen?
Muss man damit rechnen, dass sich die „globale“ Revolution bald auch gegen den Norden wendet, von dem sie ausgeht, nach dem Motto „die Revolution frisst ihre Kinder“? Der auch bei uns beginnende Sozialabbau ist vielleicht nur der Anfang einer Tendenz, die schwer zu bremsen ist.
Die Standortvorteile werden sich vielleicht nach dem Süden verlagern. Dort gibt es Rohstoffe, niedrige Löhne und kaum Soziallasten.
Mit regionalen Lösungsansätzen einzelner Staaten wird man diese Entwicklungen nicht lenken können. Für weltumspannende Lösungen, die der Globalisierung der Probleme gerecht werden, fehlen die politischen Werkzeuge; denn die gesellschaftliche Entwicklung der Völker verläuft in wichtigen Bereichen höchst unterschiedlich:
* Die Globalisierung der Wissenschaft und der Wirtschaft ist in vollem Gange; und sie wird weiterlaufen
* Die Politik ist nach wie vor national. Vor Weltproblemen versagt der nationale Ansatz jedoch, wie sich regelmäßig zeigt (man denke nur an die verschiedenen Konferenzen zum Klimaschutz).
* Die Religionen sind mehr oder weniger im Konfessionellen gebunden und bislang nicht in der Lage, eine funktionsfähige, global verantwortliche Ethik zu entwickeln. Dieses Problem ist zwar von Wissenschaftlern wie Hans Küng erkannt, doch tragende Ansätze lassen auf sich warten. Ohne gemeinsame Ethik ist es aber schwer bis unmöglich, universell gültige Normen für Menschenrechte, Regierungsformen, Sozialstandard usw. zu finden. Fehlen anerkannte ethische Normen, kann die Globalisierung der Märkte in den Kampf aller gegen alle ausarten.
Manche Wirtschaftstheoretiker – ich nenne sie Marktfetischisten – wollen uns einreden, dass „der Markt schon alles richten werde“.
Gerne berufen diese sich dabei auf Adam Smith (1713-1790), der im Freihandel eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Wohlstand der Nationen sah. Doch auf vielen Gebieten (z. B. dem Umweltschutz) erweist sich das freie Spiel des Wettbewerbs ganz offensichtlich als ungeeignet, die Probleme auch nur anzugehen. Dass der Markt nicht alles regeln kann, hat übrigens schon Adam Smith erkannt. Vom Begründer der freien Marktwirtschaft stammt zwar die Lehre, dass freie Märkte in freier Konkurrenz dem Wohlstand des Ganzen dienen können; doch er hat auch die Grenzen der Marktwirtschaft angesprochen und den Staat in die Pflicht genommen:
* für die rechtliche Ordnung des Marktes
* für die Armen
* für die öffentliche Infrastruktur
* für die innere und äußere Sicherheit
Was er noch nicht sehen konnte, war die Verantwortung für eine intakte Umwelt. Die unentbehrliche soziale Komponente der Wirtschaft, die schon Adam Smith forderte und Ludwig Erhard (1897-1977) unterstrich, wird im Globalisierungsfieber und im Freihandelswahn gerne übersehen. Wie wichtig aber gesetzliche Normen für eine funktionsfähige Wirtschaft sind, zeigt ein Blick auf das derzeitige kapitalistische Chaos in Russland.
Zur Ehrenrettung von Adam Smith muss man also sagen, dass er kein „Alles-ist-erlaubt-Kapitalist“ war, sondern auch ein Moralphilosoph, der keineswegs den Vorrang des Marktes gegenüber der Menschlichkeit vertrat.
Auch heute wird ein grenzenloser, die ganze Erde umfassender, freier Markt nicht die erhofften goldenen Zeiten bringen, wenn es nicht gelingt, ihm jene Grenzen zu setzen, die dazu führen, dass er nicht allein den Kapitaleignern, sondern allen Menschen dient. Eine noch so freie Wirtschaft wird niemals die Humanität ersetzen können.
Gelingen kann der „Großversuch Globalisierung“, von dem mehr oder weniger die gesamte Menschheit tangiert ist, nur dann, wenn es glückt, auf der Basis einer globalen Ethik weltweit ökologische und soziale Mindestanforderungen durchzusetzen. Das wird nicht ohne handlungsfähige Institutionen gehen, die umfassende Überlebensprogramme einführen, ohne die weder Nord noch Süd, weder Mensch noch Natur eine Zukunft haben.
Literatur:
(1) Boxberger, Gerald: „Die zehn Globalisierungslügen“, DTV, München, 1998.
(2) Dhonanyi, Klaus v.: „Im Joch des Profits“, DVA, Stuttgart, 1997.
(3) Engemann, Hubertus: „Globalisierung – Bedrohung oder Chance“, Deutscher Institutsverlag, München, 1998.
(4) Forrester, Viviane: „Der Terror der Ökonomie“, Goldmann, München, 1993.
(5) Greider, William: „Enstation Globalisierung“, Wilh. Heyne, München, 1998.
(6) King, Alexander: „Die erste globale Revolution“, Goldmann, München, 1993.
(7) Küng, Hans: „Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft“, Piper, München, 1997.
(8) Spiegel, Peter: „Das Terra Prinzip“, Horizonte, Stuttgart 1996.
Nachtrag 2022:
Inzwischen hat die im Dezember 2019 in Wuhan beginnende Corona-Krise durch das Abreißen der Lieferketten schwerwiegende Nachteile der ungebremsten Globalisierung aufgedeckt.
Dann lösten die massiven Angriffen russischer Truppen seit dem 24. Februar 2022 den Ukraine-Krieg und als dessen Folge eine Energiekrise aus, die sich zu einer Welt-Wirtschaftskrise ausweiten kann.