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Wirtschaft und Soziales

Globalisierung der Unmoral

(Veröffentlicht in Gralswelt 33/2004)

„Wir werden keine neue Welt erschaffen
ehe wir nicht neue Menschen erschaffen haben.“
Henry Miller (1891-1980)

WELTUMSPANNENDE WIRTSCHAFTSRÄUME
Politiker werden nicht müde, zu versichern, dass die Globalisierung der Welt ein unaufhaltsamer, irreversibler Prozess sei, den niemand anhalten oder nur verzögern könne. Als ob es irgend eine menschliche Ansicht, Überzeugung, Ideologie, Regel, Maßnahme gäbe, die nicht auch anders sein könnte. Oft genug hätten scheinbar unaufhaltbare Entwicklungen – wie man hinterher wusste – sehr wohl ganz anders verlaufen können. Man hätte einfach anders entscheiden können.

So ist auch die Schaffung großer und größter Wirtschaftsräume ein gewähltes utopisches Konzept zur Konstruktion einer „besseren Welt“. Bisher sind alle derartigen Ansätze – ob religiös, philosophisch, politisch, ökonomisch, ideologisch – entweder gescheitert oder weit hinter den in Aussicht gestellten Wohltaten zurückgeblieben.

Zur Begründung notwendiger Schritte auf dem favorisierten Weg zur Globalisierung werden sogar politische Märchen erfunden, wie z.B. die Behauptung, dass innerhalb einer ökonomischen Union oder eines einheitlichen Währungsraumes – wie den Euro-Staaten – keine Kriege mehr möglich seinen.

Glücklicherweise braucht niemand mehr mit einen Krieg z.B. zwischen Frankreich und Deutschland zu rechnen; aber nicht aus dem Grund, dass in beiden Staaten die gleiche Währung gilt. Denn eine solche Behauptung ist unhistorisch: Der hässliche Bürgerkrieg in Jugoslawien brach in einem Volk aus, das – abgesehen von den Religionen – seit Jahrhunderten dem gleichen Kulturkreis angehört, die selbe Sprache spricht und eine einheitliche Währung hatte. Die Rebellionen von Nordiren, Kurden, Tschetschenen oder Palästinensern werden nicht dadurch gebremst, dass sie im gleichen Währungsgebiet leben wie ihre echten oder eingebildeten Unterdrücker. Und der amerikanische Bürgerkrieg brach aus, obwohl Nord- und Südstaaten den Dollar hatten.

Auch die Behauptung, dass es im Zuge der Globalisierung jedem einzelnen Bürger besser gehen werde, als ohne sie, muss erst noch ihre Bestätigung finden. Vielleicht führt der, teilweise ruinöse, internationale Wettbewerb zu billigeren Preisen. Doch eine Verbesserung der Lebensqualität bieten preiswertere Produkte nur dann, wenn nicht gleichzeitig die Arbeitslosigkeit drastisch steigt, und der weltweite Konkurrenzkampf nicht teilweise zu Lasten der Umwelt ausgetragen wird. Wer die Globalisierungsgewinner sein werden, muss sich erst noch zeigen. Vorläufig hilft der freie Geldverkehr besonders den Währungsspekulanten und der Mafia, der freie Welthandel vor allem großen, international tätigen Konzernen und dem Drogenhandel. Von diesen Gruppen sollte man nicht zu viel Altruismus, Gemeinsinn, soziale Verantwortung erwarten.

Die Nationalstaaten werden hingegen schleichend entmachtet, und die Möglichkeiten der einzelnen Regierungen, z.B. bei der Arbeitsbeschaffung, immer mehr eingeengt. Auch mit der viel beschworenen Demokratie hat die Übertragung wichtiger Entscheidungen an nicht demokratisch legitimierte, überstaatliche Institutionen wenig zu tun.
Doch diese Arbeit interessiert sich weniger für die politische Seite der Globalisierung, als vielmehr die ethische.

WELTINNENPOLITIK
Das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der großen Kriege, brachte als positives Ergebnis die Überwindung des nationalstaatlichen Gedankens. Innenpolitisch waren Nationalstaaten – wenigstens auf dem Papier – Rechtsstaaten; in der Außenpolitik galt theoretisch das Völkerrecht, praktisch herrschte Faustrecht.

Nach dem 2. Weltkrieg setzte ein Paradigmenwechsel*) ein. Das nationalstaatliche Denken, verbunden mit Imperialismus, Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus, hatte abgewirtschaftet. Zumindest die europäischen Staaten erkannten, dass von nun an internationale Organisationen wie EU, OECD und UN**) mit transnationalem Denken den Weltfrieden sichern müssen.

Um die unerlässlichen ethischen Grundlagen für die Zusammenarbeit zu schaffen, berief der UN-Generalsekretär Kofi Annan eine zwanzigköpfige Gruppe von „eminent persons“. Diese sollten einen Bericht zum Dialog der Kulturen über eine neues Paradigma internationaler Beziehungen ausarbeiten. Dieses Manifest wurde am 9. November 2001 vorgelegt und erhielt den Titel „Crossing the Divide“ (Brücken in die Zukunft) (2). Die neue politische Weltanschauung soll Macht- und Prestige-Politik durch Verständigung, Annäherung und Versöhnung ersetzen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts durfte man zuversichtlich sein: Der Kalte Krieg war zu Ende, der Dritte Weltkrieg hatte nicht stattgefunden, die Konfrontation zwischen den Großmächten machte der Kooperation Platz.

Doch dann begann das 21. Jahrhundert – fast gleichzeitig mit der Vorlage des erwähnten UN-Manifestes der Hoffnung – am 11. September 2001 mit einem niederschmetternden Fehlstart. Nach einem bislang unvorstellbaren Hassausbruch des religiösen Fanatismus von Menschen musste man vieles bisher Selbstverständliche neu überdenken. Hoffentlich folgt daraus kein dauerhafter Rückschlag für die Durchsetzung einer humanen Weltinnenpolitik.

So schön und wichtig die hoffentlich erfolgreiche Weltinnenpolitik der UN zur Erhaltung des Friedens ist, sie bedarf noch einer Ergänzung: Der Wirtschaftsethik.

DIE ENTWICKLUNG DER WIRTSCHAFT
Die Wirtschaft pendelt oft zwischen Extremen: Freiheit und Zwang, Boom und Crash.

Nach langen Jahrhunderten, in denen wenig über wirtschaftliche Zusammenhänge nachgedacht wurde, und die Aufgabe der Ökonomie vor allem darin bestand, dem Fürstenhaus die für seine (oft verschwenderischen) Ziele nötigen Mittel zu beschaffen, entwickelten im Zuge der Aufklärung Wissenschaftler auch ernsthaftere Wirtschaftstheorien.

Aus der klassischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts entstand der Gedanke des freien Handels, die Idee eines ungehinderten Wettbewerbs, die im 19. Jahrhundert vor allem von England und den USA propagiert wurde und massive politische Unterstützung fand – bis zum Opium-Krieg***).

Die versprochenen Segnungen konnte die liberale Wirtschaft allerdings nicht erbringen. Anstelle einer gleichmäßigen Entwicklung pendelte sie zwischen Boom und Crash, Vollbeschäftigung und Ruin. Das Vermögensgefälle zwischen Reich und Arm wuchs, und die Abhängigkeit der Besitzlosen nahm zu. Kriege wurden von der liberalen Ökonomie eher angeheizt als verhindert.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 brachte dann den Liberalismus in Misskredit, und die staatlich gelenkte Wirtschaft bekam Aufwind: In verschiedenen Spielarten, vom bolschewistischen Staatskapitalismus über die gelenkte Wirtschaft nationalistischer Staaten bis zu Roosevelts „New Deal“****).

Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich dann zwei politische, aber auch zwei ökonomische Systeme gegenüber: „Freiheit oder Sozialismus“.

In vielen Ländern der Welt war der Sozialismus die Hoffnung der Armen; der Westen konnte nur gewinnen, wenn er den Gedanken der schrankenlos-liberalen Wirtschaft durch eine soziale Komponente ergänzte: Also eine „soziale Marktwirtschaft“, wie sie in der Bundesrepublik zum Modellfall für eine prosperierende Wirtschaft wurde, unter dem Motto „Wohlstand für Alle“. Die Wirtschaft hatte viele Freiheiten; doch der Staat setzte ihr Grenzen (Wettbewerbsrecht, Kartellbildung, Fusionskontrolle usw.) und kümmerte sich um das Gemeinwohl (Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung, soziale Absicherung, freie Gewerkschaften usw.).

Dann brach der kommunistische Block zusammen, die freie Wirtschaft hatte anscheinend gesiegt. Ökonomen wie Politiker propagierten und propagieren sie als das einzig richtige System, als Vorbild für die Welt. Wer will schon wissen, dass beide Systeme – Kapitalismus wie Sozialismus – auf gleichen Denkmustern bauen: Dem Materialismus. (Vgl. „Die Intelligenz tickt links“)

Nun galt es, die Markwirtschaft von allen Fesseln zu befreien, die ihr Sozialgesetzgebungen im Kalten Krieg angelegt hatten, weltweiten Wettbewerb einzuführen, und dem Unternehmertum völlig freie Hand zu geben. Dann würde die Armut verschwinden und alle besser, immer besser leben.

WARUM GLOBALISIERUNG ?
Nach dem sang- und klanglosen Untergang des Bolschewismus fühlte sich die westliche Ökonomie als unangefochtener Sieger im Wettstreit der Ideologien. Keine andere Wirtschaftsweise konnte mit der „freien Marktwirtschaft“ konkurrieren. Es wurde Zeit, diese Wirtschaftsform weltweit durchzusetzen: Unter dem Stichwort „Globalisierung“.

Diese Globalisierung ist allerdings die Folge eines Zwanges: Die sog. „Freie Wirtschaft“ ist genau genommen höchst unfrei, denn sie steht unter einem unerträglichen Druck: Dem Zwang zum Wachsen! Und zwar zu materiellem Wachsen.

Fortlaufendes Wirtschaftswachstum gilt als unverzichtbar, ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Wachstum dauerhaft auf einem begrenzten Planeten mit endlichen Ressourcen unmöglich ist! (Vergl. „Das Dilemma mit den Zinsen“, unter „Wirtschaft und Soziales“ ).

In den reichen Ländern ist der Bedarf gesättigt und weiteres Wachstum in dem gewollten Maße nicht mehr zu erwarten; also muss man „hinaus in die Welt“. Was mit dem Kolonialismus begann – die Absicherung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten in Übersee – soll die Globalisierung fortsetzen. Die ganze Welt wird zum Spielfeld der Großkonzerne, die so das unsinnige und auf Dauer unhaltbare, fortlaufende Wachstum der Wirtschaft noch für Jahrzehnte aufrechterhalten können, bis Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum, Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung in die Katastrophe führen: Nach uns die Sintflut!

Doch an Umweltschutz und Ressourcenschonung denken anscheinend nur Pessimisten (wie ich), die mit ihrer „rückwärtsgewandten Latzhosenphilosophie“ dem Fortschritt im Wege stehen. Ein dem Fortschritt verpflichteter Ökonom hingegen muss dem Wachstumswahn huldigen und wissen, dass es z.B. in China 1,2 Milliarden Menschen gibt, die – um nach US-Maßstäben „menschenwürdig“ zu leben – mindestens 500 Millionen Automobile brauchen (in Deutschland gibt es 40 Millionen). Welch ein Markt, den man erschließen muss! Und zwar sofort, bevor die Anderen kommen! Ob die Umwelt solche zusätzlichen Belastungen noch tragen kann, fragt er besser nicht.

GLOBALISIERUNG DER UNMORAL
International tätige Großkonzerne lassen längst dort produzieren, wo Produzieren am billigsten ist; wählen ihren Firmensitz wo die geringsten Steuern anfallen und verstehen es mit Hilfe von Top-Experten bestens, staatlichen Reglementierungen ein Schnippchen zu schlagen; meist legal aber nicht immer ethisch unanfechtbar. Denn der „harte“, für die Schwachen ruinöse, Wettbewerb zwingt angeblich zu brutalen Maßnahmen, die manchmal wie ein Rückfall in den Kolonialismus erscheinen oder gar wie eine moderne Form der Sklaverei. Gläubige Christen müssten darin den Ausdruck eines luziferischen Prinzips erkennen.

Zu dieser Globalisierung der Unmoral gehört auch der rigorose Umgang mit den Ressourcen der Erde. Nicht selten werden wirtschaftlich schwache Länder mit wertvollen Ressourcen in die Rolle des gnadenlos ausgebeuteten Rohstofflieferanten gezwungen. Dass an dieser Ausplünderung der Armen die sog. „Eliten“ der unterentwickelten Länder nicht weniger Schuld tragen als die kapitalkräftigen Abnehmer in den Industriestaaten, ist keine Entschuldigung für ihr unethisches Verhalten.

Daher sind dringend international durchsetzbare wirtschaftsethische Maßstäbe nötig, bevor der absolute Wettbewerb die Arbeitnehmer zum großen Teil in die Armut treibt (besonders die wenig qualifizierten), und so viele Firmen aufgeben müssen, dass nur kapitalkräftige Kartelle übrig bleiben, die den Markt unter sich aufteilen, und mit ihren Einheitsprodukten die in Jahrtausenden gewachsene kulturelle Vielfalt zerstören.

Eine total globalisierte Ökonomie wird auch krisenanfällig sein. Wie in der Natur zu beobachten ist, sind Biotope umso stabiler, je vielseitiger sie zusammengesetzt sind, während Monokulturen labil werden. Ebenso können viele kleinere Wirtschaftsräume Rezessionen oder Naturkatastrophen insgesamt besser verkraften als eine total vernetzter Hyperökonomie.

Die christliche Ethik – von der man in Abendland gerne spricht, ohne sie anzuwenden – wird sich kaum weltweit durchsetzen lassen. Aber jenseits der verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen Religionen muss sich ein Weg zur Verständigung über Mindeststandards finden lassen.

Alle Hochreligionen verfügen über ein Menschenbild, das Übervorteilung und Unterdrückung des Mitmenschen verbietet, und Kulturgüter schützt. Wer die Menschenrechtsdekloration der UNO ernst nimmt, sollte einige Eckpunkte für die Wirtschaftsethik akzeptieren: Verbot der kommerziellen Kinderarbeit, Begrenzung der täglichen oder der wöchentlichen Arbeitszeit, Löhne die (den örtlichen Gegebenheiten entsprechend) ein angemessenes Auskommen ermöglichen, Kranken- und Rentenversicherung, Regeln für den Arbeitsschutz. Sollten sich humane Mindestanforderungen nicht durchsetzen lassen, in einer Welt die über größere technische, ökonomische, politische Möglichkeiten verfügt, als je eine Menschheit zuvor, wird man die Frage nach dem guten Wollen der Entscheidungsträger stellen müssen.

Derzeit liegen die Standards (sofern überhaupt welche vorhanden sind) in verschiedenen Regionen der Welt weit auseinander, und nicht selten verstellen alte Egoismen den Weg zu einer ethischen Welt-Wirtschaftsordnung. Doch dieser Weg muss gefunden werden, wenn unsere Erde nicht einer Zeit der Arbeitskämpfe, Flüchtlingskrisen, Hungerrevolten, Aufstände, Bürgerkriege und terroristischer Anschläge entgegen gehen will, als Folgen unerträglicher sozialer Ungleichgewichte.*****)

Endnoten: 
*) Paradigma = (wissenschaftliche) Weltsicht
**) EU = Europäische Union, OECD = Organization for Economic Cooperation and Development, UN = United Nations
***) Opiumkrieg = vgl. „China II China und der Westen“, unter „Geschichte“.
****) New Deal = das Programm des 32. Präsidenten der USA zur Ankurbelung der krisengeschüttelten US-Wirtschaft durch verschiedenste staatliche Maßnahmen.
*****) Etwas vereinfacht kann man sagen, dass den 80 % der Menschen, die in ärmeren Ländern leben, etwa 20 % der erwirtschafteten Produkte zur Verfügung stehen; während die in reichen Ländern lebenden 20 % der Menschen über 80 % des erwirtschafteten Vermögens verfügen. Ein Mensch in den Industrieländern hat also im Durchschnitt das 16-fache Einkommen eines Menschen in den Entwicklungsländern. Dieses Ungleichgewicht hat trotz Entwicklungshilfe in den vergangenen Jahrzehnten laufend zugenommen.

Literatur:
(1) Brinkmann, Carl: „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1953.
(2) „Brücken in die Zukunft“, Manifest für die Vereinten Nationen, Fischer, Frankfurt 2001.
(3) Chossudovski, Michael: „Global brutal“, Zweitausendeins, Frankfurt, 2002.
(4) Fischer, Wolfram: „Expansion – Integration – Globalisierung“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1998.