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Wirtschaft und Soziales

Arbeite um zu überleben

Gibt es eine menschengerechte Industriekultur?(Veröffentlich in GralsWelt 66/2011)
Die „Idylle“ der Romantik

Die Zustände vor der Industrialisierung wurden oft romantisch verklärt. Gemälde aus dem 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert zeigen liebenswerte Kleinstädte und idyllische Landschaften mit fleißigen Bauern. Die Umwelt schien intakt, Wildtiere hatten reichlich Lebensraum, das Wort „Artensterben“ war unbekannt. Niemand machte sich Sorgen über Hungersnöte in China, Unruhen in Indien oder Erdbeben in Chile. Solche Ereignisse waren weit weg, und in Europa erfuhren die meisten Menschen davon nichts. Doch diese vorindustrielle Idylle hat so nie wirklich existiert.
In jedem Jahrhundert gab es in Europa Kriege, die ganze Landschaften verwüsteten. Die nicht direkt Betroffenen litten dennoch unter hohen Steuern, Zwangsrekrutierungen, Nahrungsmangel und Seuchen.
In den friedlichen Zwischenzeiten war das Leben nur für die Vermögenden angenehm. Diese verfügten über reichlich Personal und konnten sich ein bequemes Leben machen. Hoffentlich brauchten sie keinen Arzt; denn die Medizin steckte noch tief im Mittelalter und hatte von Bakterien oder Hygiene keine Ahnung. Die Geburtensterblichkeit war hoch, und der Tod durch Kindbettfieber gefürchtet. Allein der Gedanke an eine zahnärztliche Behandlung kann einem das Zeitalter des Barock oder der Romantik verleiden.
Die sozialen Ungleichgewichte belasteten am stärksten die Armen; deren Leben war schwer: harte Arbeit für das Notwendigste zum Überleben, miserable Unterkunft, kaum Hilfe bei Krankheiten, der Willkür der Gutsherrschaft ausgeliefert, so gut wie keine Rechtssicherheit.
Kein Wunder, dass in Europa viele Unbemittelte nach dem Beginn der Industrialisierung die Knochenarbeit in den Fabriken dem Landleben vorzogen. Sie wanderten ab in die Slums der Industriestädte oder nahmen sogar das Abenteuer einer Emigration auf sich.

Die alte Standesgesellschaft ging in den Wirren der französischen Revolution unter. Im 19. Jahrhundert löste eine „Klassengesellschaft“ die „Standesgesellschaft“ ab. Spätestens seit den 1840er Jahren sprach man von „arbeitenden“ und „besitzenden“, von „unteren“ und „oberen“ Klassen.
Anders als die Gutsherren der vorindustriellen Zeit fühlten sich die Fabrikherren der neuen Epoche in der Regel nicht zur Fürsorge für ihre Arbeiter verpflichtet. So ging es einem Fabrikarbeiter manchmal sogar schlechter als einem Landarbeiter. Die sozialen Ungleichheiten der nachständischen Klassengesellschaft schienen manchem Zeitgenossen daher größer als in der alten Standesgesellschaft. Der Gesundheitszustand der Fabrikarbeiter war schlecht, ihre Ernährung kärglich, ihr Lohn gering und ihre Arbeitszeiten lang.
Während vor der Industrialisierung Spinnen und Weben meist Heimarbeiten waren, herrschten nun in den maschinisierten Baumwollspinnereien auch für Frauen und Kinder kaum erträgliche Arbeitsbedingungen. Auf individuelle Befindlichkeiten nahmen die Fabrikherrn keine Rücksicht. –

Der Abstieg eines Handwerksmeisters
Der Abstieg vom allein verdienenden Handwerksmeister zur Fabrikarbeiterfamilie lässt sich sehr deutlich am folgenden Beispiel einer Arbeiterfamilie zeigen:
• 1770 verdiente Johann Nepomuk Schulte als Webermeister in einer Manufaktur 5 Taler Wochenlohn. Damit konnte er eine Familie gründen und ernähren. Seine Frau verdiente mit einem kleinen Nebenverdienst 1/2 Taler.
• 1820 wurde sein Enkel Johann Nepomuk in der Fabrik nur angenommen, wenn er gleichzeitig eine Frau als „Arbeitskraft“ mitbrachte. Er verdiente 3,5 Taler, seine Frau 1,5 Taler.
• 1830 drohte ihm Entlassung, wenn er seine neunjährige Tochter nicht in die Fabrik schickte. Sein Lohn sank auf 3 Taler, seine Tochter erhielt 3/4 Taler.
• 1833 wurde sein Lohn auf 2,5 Taler gekürzt, der seiner Frau auf 1,25. Zusätzlich zu seiner Tochter musste er noch seine beiden jüngeren Kinder für 1/2 Taler in die Arbeit schicken.
Der Familienverdienst zwischen 1770 und 1833 blieb zwar gleich, wurde aber durch die Inflation und die Tatsache verringert, dass die Frau keine Zeit mehr für ihren Gemüsegarten hatte und ihre Hausarbeit nur noch unter Aufbietung aller Kräfte notdürftig erledigen konnte. Insgesamt sank das Realeinkommen der Familie, die Wochenarbeitszeit der Familienmitglieder stieg dagegen von 90 auf rund 240 Stunden.“
Quelle: Bernd Hercksen, „Vom Urpatriarchat zum globalen Crash?“ (2, S. 334 f.).

Eine menschengerechte Industriekultur?

Etwa 30 Kilometer östlich von Köln liegt der kleine Ort Engelskirchen. Hier kann man in einem denkmalgeschützten alten Fabrikgebäude ein kleines Industriemuseum besichtigen, das an die einst florierende Baumwollspinnerei „Ermen & Engels“ erinnert. Gegründet wurde diese Fertigungsstätte im Jahr 1837 von Friedrich Engels sen. (1796–1860), dem Vater des bekannten Sozialisten Friedrich Engels jun. (1820–1895).
Im Zuge der Textilkrise, ausgelöst durch den zunehmenden Konkurrenzdruck aus dem fernen Osten, musste die Fabrik 1979 geschlossen werden. Die meisten Maschinen – vor allem Ringspinnmaschinen, wie sie schon um 1900 liefen – wurden nach Indien verkauft. Dort werden sie unter etwa den gleichen Arbeitsbedingungen weiter betrieben wie um 1900 in Deutschland.
Heute befinden sich in den denkmalsgeschützten Fabrikgebäuden das Rathaus der Gemeinde, Wohnungen und eine Dependance des Rheinischen Industriemuseums.
Friedrich Engels jun. sollte den väterlichen Betrieb in Engelskirchen fortführen. Im Zuge seiner Ausbildung kam er nach Manchester in eine Baumwollspinnerei, an der sein Vater beteiligt war.
Die Zustände in den dortigen Fabriken (heute als „Manchester-Kapitalismus“ verpönt) erschütterten ihn so sehr, dass er sich für die Arbeiterschaft einsetzte und zum Kapitalismuskritiker wurde. Zu den Schriften, die ihn berühmt (und berüchtigt) machten, gehören „Kritik der Nationalökonomie“ (1844) und „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845), die mit Dantes „Inferno“ verglichen wurde. –

Weh über die Führer der Nationen
„Weh über die Führer der Nationen,
Die Henker im Frack, die Mörder auf Thronen!
Sie machen Geschichte, sie spinnen Netze,
Mit Hilfe der Presse, der feilen Metze.

Wenn faul Republiken und Monarchien,
Nach Freiheit und Aufklärung wird geschrien,
Dann heißt einen schneidigen Krieg erzeugen,
Der Revolution noch schnell vorzubeugen.

Dann treiben die Hirten die Herden zur Weide,
Zum Kampffeld hinaus, rum tollt euch im Streite!
Kühlt euer Mütchen, ein Volk am andern,
Uns aber lasst den Herrenpfad wandern!

Das tötet und würgt uns und wird getötet,
Die ganze Welt ist von Blut schon gerötet,
Sie kämpfen verzweifelt, Mann gegen Mann,
Hat keiner was dem andern getan.

Was hat euch, ihr Völker, mit Blindheit geschlagen,
Wann wird es in euren Gehirnen tagen,
Wann dringt in eure Seelen das Licht
Der echten Freiheit, die liebt, nicht ficht?“
Emerenz Meier (1874–1928).

Seither ist viel über die Schwächen unseres (kapitalistischen) Wirtschaftssystems geschrieben und diskutiert worden. Eine Flut von Berichten und Pamphleten prangerte – besonders im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert – die oft desolate Lage der Arbeiter an.
Dann haben sich in den Industrieländern politische Parteien und Gewerkschaften der Problematik angenommen. Diese erreichten in dafür günstigen Perioden, dass auch die Arbeitnehmer Nutzen aus dem Produktivitätsfortschritt zogen.
In vielen Schwellenländern fehlen noch Organisationen, die für die Rechte der Arbeiter eintreten.
Die als Hoffnung der Armen propagierte bolschewistische (Miss-)Wirtschaft (vgl. „Wo bleibt die Hoffnung für die Armen der Welt?“) hat versagt, und der Sieg der kapitalistischen Marktwirtschaft schien nach dem Zusammenbruch des Ostblocks unaufhaltsam.
Manche glaubten an eine weltweite Neuauflage des „Amerikanischen Traums“ (vgl. „Erwachen aus unruhiger Nacht“, hier unter „Wirtschaft und Soziales“), einer globalen, freien, schnell wachsenden Wirtschaft, die jedem die Chance gibt, sich seinen Fähigkeiten gemäß zu entfalten und Wohlstand zu erlangen.
Allerdings lassen die globale Finanzkrise von 2008 und die EURO-Krise des Jahres 2010 erneut Zweifel aufkommen, ob der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form zukunftsfähig ist.  

Es gab allerdings stets auch Unternehmer mit Sinn für die Bedürfnisse ihrer Arbeiter. Die großen technischen Erfinder – von Watt über Stephenson, Siemens, Benz und Daimler bis Bosch – hatten sich oft aus bescheidenen Anfängen emporgearbeitet und meist auch Verständnis für die Belange ihrer Mitarbeiter. Am bekanntesten wurde Henry Ford (1863-1947) mit seinem vielseitigen sozialen Engagement. (Vgl. „Ein total verrücktes Experiment?“, unter „Wirtschaft und Soziales“).
Das 19. und beginnende 20. Jahrhundert war daher auch eine Epoche der aufgeklärten, sozial denkenden Unternehmerpersönlichkeiten, die Fabrikherren und Philanthropen waren. Deren vielfältige Ansätze zur Schaffung einer humaneren Arbeitswelt werden manchmal unter der unscharfen Überschrift „utopischer Sozialismus“ zusammengefasst.
In Europa entstanden Mustersiedlungen, die das tägliche Leben mit der Fabrikarbeit harmonisch verbinden wollten; zum Beispiel in New Lanark in Schottland.
Hier verwirklichte der Philanthrop und Sozialist Robert Owen (1771–1858) von 1800 bis 1825 Ideen, die ihrer Zeit um ein Jahrhundert voraus waren. Kinderarbeit und Prügelstrafen wurden abgeschafft. Die Bewohner der Siedlung bekamen ordentliche Häuser, Schulen und Abendkurse, kostenlose Gesundheitsfürsorge und Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen. Diese Fabrik arbeitete, auch nachdem Owen sie verlassen hatte, Jahrzehnte lang erfolgreich und fand internationale Beachtung (2).
In den Jahren von 1825 bis 1828 versuchte Robert Owen seine Ideen in einer weiteren Mustersiedlung in den USA zu verwirklichen. Doch „New Harmony“ in Indiana scheiterte, und Owens Utopie von einer human gestalteten Arbeitswelt konnte nicht zum Vorbild werden für den Rest der Welt. –

Wer etwas von dieser Form einer menschengerecht gestalteten Industriekultur und ihre baulichen Verwirklichung selbst erleben möchte, muss nicht gleich nach Schottland reisen. Einen Markstein des industriellen und sozialen Fortschritts kann man im Rahmen einer Italienreise auch in der Lombardei besichtigen.
Nicht weit von Bergamo, nahe der E 66 (Ausfahrt Capriate) zwischen Brescia und Mailand, liegt das Dorf Crespi d’Adda mit seinen besonderen städtebaulichen Anlagen. Dieses authentische Modell einer Idealstadt wurde 1995 ein UNESCO Weltkulturerbe. Hier kann man anschaulich erleben, wie sich ein altruistisch denkender Unternehmer des 19. Jahrhunderts eine Industriegesellschaft mit menschlichem Antlitz vorstellte.
Der Gründer der Fabrik, Cristoforo Benigno Crespi (1833–1920), errichtete 1878 auf der grünen Wiese eine Textilfabrik für Baumwollverarbeitung. Für die Standortwahl war die verfügbare Wasserkraft das Flusses Adda entscheidend.

Nach der englischen Gartenstadt-Idee und Vorbildern aus Deutschland, Frankreich, Schottland wurden bis 1920 nach und nach nicht nur Fabrikanlagen gebaut, sondern die Verwirklichung eines idealen Bildes einer Industriekultur angestrebt.
So entstand, neben den Fertigungsstätten und dem Kraftwerk, auch eine Kleinstadt – ausschließlich für Crespi-Mitarbeiter –, die der Eigentümer von seinem Schloss aus wohlwollend-patriarchalisch regierte. Für alles Notwendige wurde gesorgt: Wohnraum, Schule, Kirche, Gärten, Gemüsegärten, Gemeinschaftszentrum, Waschhaus, die erforderlichen Dienstleistungen.
Zudem war der kleine Ort mit seiner sehenswerten Architektur in vieler Hinsicht wegbereitend: In Crespi gab es die erste öffentliche elektrische Beleuchtung Italiens, kostenlose Ausbildung für die Arbeiterkinder, ein kostenloses Hallenbad.
Leider war dieser interessante Versuch, wirtschaftliche und soziale Interessen harmonisch auszugleichen, nicht von Dauer. In der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre beendete ein Konkurs diese Form des Fabrikpaternalismus. Die historische Fabrik konnte noch bis 2005 weiter betrieben werden, bis sie unter dem steigenden Konkurrenzdruck endgültig aufgeben musste.

Siegt das „Gesetz des Dschungels“?

Unternehmen in vielen Ländern auf verschiedenen Kontinenten haben sich bemüht, das Arbeitsleben human zu gestalten. Noch in den 1950er und 1960er Jahren habe ich in Deutschland ein vorbildliches soziales Engagement einer Reifenfabrik erlebt, der ich persönlich viel zu verdanken habe[i].

Alle diese sozialen Ansätze unterschiedlichster Firmen waren leider nicht von Dauer. Durchgesetzt haben sich – besonders in der Hochfinanz und in der Großindustrie – nicht selten die rücksichtslosesten Akteure mit brutalem Gewinnstreben. Arbeitnehmer werden nur noch als Kostenfaktoren gesehen, deren Wohlergehen und deren Menschenwürde den Kapitalisten von heute gleichgültig sind.
Unter dem extremen Konkurrenzdruck im Zeitalter der Globalisierung ist kaum noch zu erwarten, dass Unternehmer sich sozial engagieren und sich freiwillig zusätzliche (nicht durch Gesetze erzwungene) Soziallasten aufbürden. So werden Länder und Kommunen immer mehr soziale Aufgaben übernehmen müssen. Damit besteht die Gefahr einer Überforderung der öffentlichen Hand, die zur Überschuldung oder gar zum finanziellen Kollaps der Sozialstaaten führen kann[2].

Ein, wenn auch unzureichender Trost in dieser Hinsicht sei uns die Feststellung, dass die derzeitige, weltweite kapitalistische Ausbeutung – geduldet von entscheidungsschwachen, korrupten und konkursverdächtigen Demokraten – immer noch besser ist als ein Krieg … der uns hoffentlich erspart bleibt!

Literatur:
(1) Forrester Viviane, Der Terror der Ökonomie, Goldmann, München, 1998.
(2) Hercksen Bernd, Vom Urpatriarchat zum globalen Crash?, Shaker Media, 2010.
www …
Industriemuseum Engelskirchen
http://www.industriemuseum.lvr.de/schauplaetze/engelskirchen/

New Lanark
http://www.newlanark.org/gallery.php.
http://de.wikipedia.org/wiki/New_Lanark.
Crespi
http://www.villaggiocrespi.it/deu/index.html.
http://de.wikipedia.org/wiki/Crespi_d%E2%80%99Adda.
Friedrich Engels
http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Engels.

Endnoten:
[i] In einer werkseigenen Abendschule konnte ich eine Ausbildung zum Gummitechniker absolvieren. Anschließend durfte ich mit einem Firmen-Stipendium an einer Technischen Hochschule Maschinenbau studieren.
[2] Zu den ausufernden Soziallasten lesen Sie den Nachtrag zu „Abschied von der (sozialen) Marktwirtschaft“ unter „Wirtschaft und Soziales“.