(Veröffentlicht in GralsWelt 8/1998)
Die deutsche Prophetin
Es war der Staufer Friedrich I. – Kaiser Barbarossa – der Hildegard von Bingen (1098 – 1179) so nannte. Aber so berühmt die Seherin zu Lebzeiten war, nach ihrem Tod gerieten ihre Visionen, geriet ihr Werk in Vergessenheit. Im Jahrhundert nach ihr (13. Jh.) begannen die Kloster- und Kathedralschulen an Einfluss zu verlieren, und die Zukunft gehörte einer neuen Art gelehrter Genossenschaft, aus der sich die Universitäten entwickeln sollten. In diesen Kreisen studierte man Aristoteles, und das Denksystem der „Logik“ verdrängte die „Mystik“. Auch die mittelalterliche Religiosität wurde bald weniger von Visionären geprägt als von Gelehrten wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquin.
In den religiösen Schriften der Hildegard von Bingen nehmen Schauungen eines endzeitlichen Geschehens einen bedeutenden Raum ein. Es sind dramatische Bilder, die von Hildegard vermittelt werden, und sie beschreibt ihre Visionen aus dem mittelalterlichen Weltverständnis. Ihr Werk kann man nach Umfang und Bedeutung in die Nähe von Dantes „Göttlicher Komödie“ rücken. Eine Deutung ihrer Gesichte ist nicht einfacher als ein Verständnis der „Großen Apokalypse“, der Johannes-Offenbarung. Man kann nur mit aller Vorsicht zu erspüren versuchen, was die große Seherin des Mittelalters uns heute noch zu sagen hat. Allerdings hat Geschautes, das Wahrheit in sich trägt, für alle Zeiten Gültigkeit.
In Hildegards Weltbild ist ein erhabener Gottesbegriff die Mitte und die Höhe. Sie sieht Gott größer, als die gewöhnlich vermittelten kirchlichen Lehren ihn schildern. Der ihr in den Visionen gekündete Schöpfer ist mehr als ein machtvoller König im himmlischen Reiche, der mit willkürlichen Entscheidungen in das menschliche Leben eingreift:
„Gott aber, der alles vorher Erwähnte geschaffen hat, ist das alleinige Leben, aus dem alles Leben atmet, wie ja auch der Sonnenstrahl aus der Sonne stammt, und Er ist das Feuer, von dem jedes Feuer, das sich auf die Seligkeit richtet, angezündet wird, gleichwie die Funken vom Feuer ausgehen. (…) Gott ist ein Einziger und durch sich selbst und in sich selbst. Von keinem anderen erhielt Er das Sein. Vielmehr hat jede Kreatur das Dasein von Ihm.“
In den Visionen Hildegards ist das „Jüngste Gericht“ eine Folge des Sündenfalls. Nach vielfältigen Katastrophen endet es mit der endgültigen Reinigung der Schöpfung von allem Übel sowie der Vernichtung Satans. Bevor es zu diesem Ende kommt, sieht Hildegard fünf Zeitabschnitte, die von einem fortschreitenden Abstieg menschlichen Verhaltens gezeichnet sind:
„Du siehst nach Norden und siehe, da stehen fünf wilde Tiere. Sie versinnbildlichen den wilden, wider sich selbst rasenden Lauf von fünf zeitlichen Reichen.“
Diesen wilden Tieren – ein feurig glühender Hund, ein gelber Löwe, ein fahles Pferd, ein schwarzes Schwein und ein grauer Wolf – sind bestimmte menschliche Schlechtigkeiten zugeordnet, wie: Aggressivität, Begierden aller Art, Unzucht, heuchlerische Heiligkeit, Machtspiel, Raub, Mord, Totschlag, Verschlagenheit, Lauheit. Man hat versucht, in den „fünf zeitlichen Reichen“ bestimmte Geschichtsepochen zu erkennen. Aber Hildegards Visionen lassen höhere Einblicke, weltumspannende Schauungen vermuten, die sich kaum in den engen Kreis von ein paar Jahrhunderten irdischer Geschichte pressen lassen.
Es ließe sich aufgrund der ausführlich überlieferten apokalyptischen Gesichte Hildegards ein Bild von den Ereignissen der „letzten Tage“ entwerfen, denn sie schildern anschaulich, wie sich dieses noch nie dagewesene Geschehen auf unserer Erde auswirken wird. Der seit Jahrtausenden eingeschlagene Weg des von Gott abgewendeten Wollens und Denkens wird am „Ende der Zeiten“ seinen Höhepunkt erreichen. Eine entsprechende Bewusstseinshaltung würde dann mehr oder weniger die ganze Menschheit erfassen. In dieser verfehlten geistigen Einstellung darf man einen krassen Materialismus vermuten und parallel dazu eine ständig wachsende Reduzierung ethischer Werte. Diesen Gedanken bestätigt eine überraschend präzise Beschreibung Hildegards:
„Mit gebeugtem Körper und Geist werden diejenigen das Untier der Bosheit anbeten, die das Zelt ihres Herzens fest an irdische Dinge geheftet haben, …“
Aber die Menschheit wird erkennen (müssen), wohin das beengte, nur das Irdische berücksichtigende Denken und Handeln führt. Hildegard „schaut“ (im „Buch vom verdienstvollen Leben“), wie sich die Elemente an einen Gottgesandten, den „Mann Gottes“, wenden:
„Und ich hörte, wie sich mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt an den Mann Gottes wandten. Und sie riefen: ‘Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.‘ Ihnen antwortete der Mann: ‘Mit meinem Besen will ich euch reinigen und die Menschen so lange heimsuchen, bis sie sich wieder zu Mir wenden …
Doch nun sind alle Winde voll vom Moder des Laubes, und die Luft speit Schmutz aus, so dass die Menschen nicht einmal recht ihren Mund aufzumachen wagen. Auch welkte die grüne Lebenskraft durch den gottlosen Irrwahn der verblendeten Menschenseelen. Nur ihrer Lust folgen sie nach und lärmen: ,Wo ist denn ihr Gott, den wir niemals zu sehen bekommen?‘
Ihnen antworte ich: ,Seht ihr Mich denn nicht Tag und Nacht? Seht ihr Mich nicht, wenn ihr sät und wenn die Saat aufgeht von Meinem Regen benetzt? Ein jedes Geschöpf strebt hin zu seinem Schöpfer und erkennt ganz klar, dass nur Einer es hervorgebracht hat. Nur der Mensch ist ein Rebell‘ …“
Die Menschen selbst haben ihre Welt verdorben, aber Hildegard sieht auch, wie es nach der großen Reinigung sein wird:
„… die Elemente [werden] in größter Klarheit und Schönheit aufleuchten, denn aller behindernder Schmutz und Dunkelheit ist von ihnen abgefallen. Dann leuchtet das Feuer ohne Glanz wie die Morgenröte. Die Luft ist ohne Dichte und leuchtet ganz rein. Das Wasser steht klar und ruhig, weil es nicht hin und her bewegt wird, und die Erde erscheint ohne Vergänglichkeit und Ungleichheit stark und eben. Größte Ruhe und Schönheit herrschen dann. Sonne, Mond und Sterne sind wie kostbare Steine aus Gold und schimmern am Firmament mit großer Klarheit und viel Licht. Die Nacht der Finsternis weicht sodann dem ewig jungen Tag.“
Das könnte der Hinweis sein auf eine Zeit, eine Gnadenfrist als geistige Schule für alle Menschen, die lernen wollen, den rechten Weg zu gehen, d. h. in Beachtung der Gottesgesetze zu leben. Denn die letzte Entscheidung über Sein oder Nicht-Sein im Geistigen steht noch bevor, und Hildegard sagt dazu:
„Doch wann nach dem Falle des Gottlosen mit der Auflösung der Welt der Jüngste Tag anbrechen wird, danach soll der sterbliche Mensch nicht forschen. Er kann diesen Tag nicht wissen, denn der Vater hält ihn verborgen im Geheimnis seines Ratschlusses. Bereitet euch, ihr Menschen, zum Gericht.“
Johannes, der große Prophet des Neuen Testaments, mit seiner „Offenbarung“ und Hildegard, die große „Prophetissa teutonica“, die große deutsche Prophetin, die uns um 1000 Jahre näher ist, mahnen mit der gleichen Stimme zu Einsicht und Umkehr.