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Religionsgeschichte

Professorenstreit um Qumran

(Veröffentlicht in GralsWelt 16/2000)

Die Rätsel und Vermutungen rund um die „Schriftrollen vom Toten Meer“

Als vom Jahr 1947 an in Felsenhöhlen, 12 km südlich von Jericho, alte Schriftrollen entdeckt wurden, galten diese Funde als Weltsensation, und noch heute liest man, dass es sich um ein archäologisches Jahrhundertereignis handle.

 Was wurde gefunden?

In elf verschiedenen Höhlen um Qumran, einer Siedlungsruine aus jüdischer Zeit am Nordwestufer des Toten Meeres, lagerten 80.000 bis 100.000 einzelne Fragmente von etwa 800 verschiedenen Schriften, vermutlich aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. So fand sich zum Beispiel ein fast komplettes Altes Testament (ohne das Buch Esther) in hebräischer Sprache, das wahrscheinlich im ersten vorchristlichen Jahrhundert geschrieben wurde.

Wer allerdings – wie ich – seit Jahrzehnten auf die durch die Qumran-Rollen zu enthüllenden Sensationen wartet, musste sich gedulden und wurde lange enttäuscht. Und wer von dem „archäologischen Jahrhundertfund“ etwas dem Grab von Tutenchamun Vergleichbares erhoffte, war kaum für eine unübersehbare Menge von schwer entzifferbaren, unscheinbaren Pergament-Fragmenten alter Schriftrollen zu begeistern, die nur Fachwissenschaftlern etwas sagen.

Vierzig Jahre nach dem sensationellen Fund war nur etwa ein Drittel veröffentlicht, und die mit der Auswertung und Betreuung betrauten Wissenschaftler mussten sich Vorwürfe machen lassen. Diese reichten von der absichtlichen Verschleppung der Veröffentlichung bis zur Zurückhaltung brisanter Informationen zugunsten des Vatikans.

Inzwischen sind wohl alle Qumran-Funde veröffentlicht und damit der Fachwelt zugänglich. Das interessierte Publikum konnte sich in Ausstellungen (zum Beispiel einer im Römisch-Germanischen Museum zu Köln vom 14. November 1998 bis zum 18 April 1999) ein Bild von Qumran und seinem Umfeld machen und sogar einige Originale der Fundstücke bestaunen.

Seit Anfang der 90er Jahre ist unter den Experten nun die „Schlacht um die Interpretation“ entbrannt, in der die Standpunkte teilweise heftig aufeinander prallen.

Die Siedlung Qumran

Unter der Mehrzahl der Wissenschaftler scheint man sich einig, dass es sich bei Qumran um eine Essener- (Essäer-) Siedlung handelt. Die Essener waren neben den Sadduzäern und Pharisäern eine dritte religiöse Gruppe zur Zeit von Jesus, die allerdings in der Bibel unerwähnt bleibt, obwohl Johannes der Täufer als Essener gilt. Der Zeitzeuge Flavius Josephus (37-95 n. Chr.), ein Jude, der später auf römischer Seite stand, schreibt dazu:
„Eine dreifache Ordnung gesetzlicher Lebensweisen ist unter den Juden. Die eine hat den Namen der Pharisäer, die andere aber der Sadduzäer, die dritte aber der Essäer (Essener), welche reiner als jene beiden ist. Diese nämlich verabscheuen jegliche Wollust, die Enthaltsamkeit aber und das leidenschaftslos Leben preisen sie. Und die Ehe verachten sie und die Lust zum Weibe. Reichtum aber wollen sie nicht, und es gibt unter ihnen gar kein Eigentum, sondern alles ist bei ihnen allgemein, sowohl an Kleidung wie an Lebensmitteln. Öl jedoch halten sie für unrein. Die Gewänder aber sind bei ihnen fortwährend weiß.“ („Der jüdische Krieg“, 11, 119 F.).

Manche Forscher sehen in Qumran zuerst eine Siedlung zölibatärer jüdischer Mönche, ganz im Sinne des Berichtes von Flavius Josephus. Allerdings enthalten 30 bis 40 % der geöffneten Gräber die Skelette von Frauen und Kindern, und einige der entdeckten Qumran-Schriften empfehlen die Ehe, so dass man keine typische Mönchsgemeinschaft annehmen kann.

Bringen die Qumran-Rollen Neues?

Die mehr oder weniger offizielle Darstellung sieht in den Funden von Qumran Folgendes:

* Schriften des Alten Testamentes. Dieser Fund ist insofern interessant, als die bislang älteste bekannte Fassung des Alten Testamentes aus dem 10. Jahrhundert nach Christus stammt.

* Die also ein Jahrtausend älteren Qumran-Rollen stimmen buchstabengenau mit den bekannten Bibel-Texten überein und beweisen, mit welcher unglaublichen Texttreue diese religiösen Schriften über liefert wurden.

* Eine Sekten-Regel und weitere Sekten-Schriften. Diese sind eigentlich nur für Fachwissenschaftler von Wert. Wer sich als Christ oder aus historischem Interesse der Bibel und ihrem Umfeld zuwendet, dem sagen die Regeln oder die zeitkritischen Kommentare einer längst verschwundenen Gruppe jüdischer Eiferer wenig.

* Ein besonders merkwürdiger Fund besteht in einer Kupferrolle, auf der die Verstecke von Gold- und Silberschätzen aufgeführt sein sollen. Bisher waren die Bemühungen der Wissenschaftler erfolglos, diese Schätze aufzuspüren.

Offensichtlich können nur Fachwissenschaftler die Bedeutung der Qumran-Funde richtig einschätzen, während der interessierte Laie eine Qumran-Ausstellung mit dem Eindruck verlässt: „Zu viel des Aufhebens um recht wenig.“

Eine sensationelle Deutung

In den Qumran-Schriften gibt es jedoch einige, wenn auch nicht unbedingt zwingende Hinweise, die aufhorchen lassen. Es finden sich die Begriffe „Lehrer der Gerechtigkeit“, „Gottloser Priester“ und „Der Lügner“. Die Mehrzahl der Historiker datiert die fraglichen Schriftrollen in das erste vorchristliche Jahrhundert und erkennt sie als Dokumente für Streitigkeiten zwischen dem  Tempel von Jerusalem (mit seinen sadduzäischen Priestern, die ihrem Frieden mit Rom gemacht hatten) und den Essenern als kompromisslosen Fundamentalisten.

Einer der Wissenschaftler, Robert Eisenmann, ist allerdings mit einer schockierenden Deutung an die Öffentlichkeit getreten. Er datiert die brisanten Schriften in das erste nachchristliche Jahrhundert und sieht in der Gemeinde von Qumran eine urchristliche Gemeinschaft unter der Leitung von Jakobus, dem Apostel und leiblichem Bruder von Jesus.

Jakobus: Der „Lehrer der Gerechtigkeit“. Dieser Lehrer der Gerechtigkeit wird mit den gleichen Worten beschrieben, wie frühe Christen von dem Apostel Jakobus sprachen. Die ersten Christen nannten sich ja noch keineswegs „Christen“, sondern verstanden sich als strenggläubige Juden.

Gottloser Priester: Der höchste Tempelpriester von Jerusalem.

Der Lügner: Ein von der Qumran-Gemeinde verstoßenes Mitglied, also ein Abweichler oder „Ketzer“. Eisenmann ist überzeugt, dass es sich um eine Benennung für den Apostel Paulus, den Begründer der christlichen Kirche handelt. (Vgl. dazu „Die urchristlichen Gemeinden“ unter „Religionswissenschaft“).

“Jakobus der Gerechte“ war von den vierziger bis in die sechziger Jahre des ersten Jahrhunderts das angesehene Oberhaupt der „Urkirche“ oder „Jerusalemer Versammlung“. Nach seiner Ermordung, etwa im Jahre 62, wurde vermutlich der später auch zum Märtyrer gewordene Simon bar Kleophas, ein Vetter von Jesus und Jakobus, sein Nachfolger. Der später für die Kirche so bedeutsame Simon Petrus spielte damals anscheinend noch keine große Rolle, so dass er möglicherweise keine historisch gesicherte Gestalt ist.

Die ursprüngliche Gemeinde zu Jerusalem wanderte zum Teil schon vor dem jüdischen Krieg (66-70) und der Zerstörung Jerusalems (70) aus, vermutlich aufgrund einer warnenden Prophezeiung (Matth. 24, 15-20), die Jesus zugeschrieben wird. Eine neue Heimat fand diese Gemeinde in Pella (dem heutigen Tabaqat Fahl im nordwestlichen Jordanien), bis sie nach einigen Jahrhunderten aus der Geschichte verschwand.

Der Gegensatz zwischen den Urchristen (mit ihrem Leiter Jakobus) und Paulus (dem Apostel der „Heidenchristen“) ist historisch belegt; auch wenn die Apostelgeschichte diese Auseinandersetzung nur in einer Form wiedergibt, die zugunsten von Paulus geschönt ist.

Folgt man den Thesen von Robert Eisenmann, dann verbreitete Paulus außerhalb von Palästina eine jüdisch-hellenistische Lehre, die für das Römische Reich nicht bedrohlich war und zu einer Weltkirche werden konnte. Die strenggläubigen Anhänger des Juden Jesus, darunter die Gemeinde von Qumran, waren dagegen zu keinerlei Kompromissen mit der Besatzungsmacht und dem Zeitgeist bereit. Dafür wurden sie im jüdischen Krieg (66-70) vernichtet oder zerstreut. Auch die Siedlung von Qumran wurde wahrscheinlich damals zerstört. Die in letzter Not versteckten heiliggehaltenen Schriften konnten später nicht mehr geborgen werden, da von den Geheimnisträgern kaum einer überlebt hat.

Mit diesen urchristlichen Gemeinschaften gingen auch die ursprünglichen, von Jesus gepredigten Lehren verloren, die sich von der „paulinischen Religion“ deutlich abheben.

Überlebt haben vor allem die Christen außerhalb Palästinas, die (mit Ausnahme der kleinen Gemeinde von Pella) Paulus folgten. Dieser hat Jesus nicht gekannt und wusste von dessen Lehre nur wenig. Auch die Verfasser der Evangelien waren auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Sie widersprechen sich häufig, und die von ihnen als Bekenntnisschriften (nicht als historische Quellen) verfassten Evangelien basieren lauf den von Paulus verbreiteten Lehren. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Schuld an der Kreuzigung Jesu den Juden zugeschoben wird, weil ein von den Römern als Aufrührer Gekreuzigter außerhalb Palästinas als Religionsgründer wohl nicht vermittelbar war.

Derzeit steht Robert Eisenmann mit seinen Thesen, die er in seinem ausführlichen Werk „Jakobus, der Bruder von Jesus“, interessant untermauert, noch ziemlich allein. Man darf gespannt sein, ob sich seine Gedanken durchsetzen, und damit die Funde von Qumran doch noch zu der Sensation werden, die viele seit Jahrzehnten erwarten.

Literatur:
(1) Baigent, Michael/Leigh, Richard: „Verschlusssache Jesus“, Droemer-Knaur, München, 1991.
(2) Betz, Otto: „Jesus, Qumran und der Vatikan“, Brunnen Verlag, Gießen, 1993.
(3) Eisenmann, Robert: „Jakobus, der Bruder von Jesus“, Bertelsmann, München 1998.
(4) Schonfield, Hugh J.: „Die Essener“, Verlag Bruno Martin, 2121 Südgellersen, 1985.
(5) Stegemann, Hartmut: „Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus“, Herder, Freiburg, 1993.