(Veröffentlicht in GralsWelt 14/1999)
Unter den drei großen asiatischen Religionsgründern – Buddha, Konfuzius, Lao-Tse – hat im Abendland einer besondere Aufmerksamkeit gefunden: Lao-Tse (Lao‑zi, Lao Tan). Das ihm zugeschriebene Taoteking (Dao‑de‑jing) wurde mehrfach in europäische Sprachen übersetzt. Kein Geringerer als Martin Heidegger (1889- 1976) erarbeitete zusammen mit einem Chinesen eine Übersetzung, und Carl Gustav Jung (1875- 1961) verfasste Kommentare zu taoistischen Schriften. GralsWelt-Redakteur Siegfried HAGL fasst zusammen, was über den „rätselhaften Weisen“ bekannt ist.
Wer war Lao-Tse?
Von dem großen chinesischen Weisen ist geschichtlich nur wenig bekannt; um das Leben des Lao-Tse ranken sich allerdings viele Legenden, ähnlich den Berichten über Buddha, die sich teilweise widersprechen. Der einzige offizielle Bericht über das Leben des Lao-Tse taucht erst Jahrhunderte nach seinem Wirken bei dem chinesischen Historiker Sima Quian (Ssu‑ma Ch’ien, ca. 145-90 v. Chr.) auf. Demnach hatte Lao-Tse (= der „Alte Meister“) den Namen Li‑Erl, den Großjährigkeitsnamen Eo‑Yang und den Tabunamen Dan. Unter der Herrschaft der Zhou‑Dynastie hatte er im 6. Jahrhundert vor Christus das Amt des Archivars am Hofe inne. Nach diesen Berichten wurde Lao-Tse im Jahre 571 v. Chr. in Kuxien im Staate Chu (der heutigen Provinz Henan) geboren und war damit ein etwa 20 Jahre älterer Zeitgenosse des Konfuzius.
Manche Religionswissenschaftler halten diese Angaben für nicht zutreffend und vermuten, dass Lao-Tse erst im 3. vorchristlichen Jahrhundert lebte, da eine so frühe Entstehung des „Taoteking“ geistesgeschichtlich unwahrscheinlich sei.
In den „geschichtlichen Aufzeichnungen“ (Shih‑chi) von Sima Quian erscheint auch eine der meistzitierten Angaben über das Leben des Lao-Tse, die auch Bert Brecht zu seiner Ballade inspirierte:
„Lao-Tse verbrachte den größten Teil seines Lebens in Chou. Als er den Verfall der Stadt vorhersah, verließ er sie und kam an die Grenze. Der Grenzwächter Yin‑Hi sagte zu ihm: Der Herr will sich zurückziehen, darf ich den Herrn bitten, mir ein Buch zu schreiben?‘ Darauf schrieb Lao-Tse ein Buch in zwei Teilen, das mehr als 5.000 Worte enthielt und in dem er die Begriffe ,der Weg‘ (Tao) und ,die Kraft‘ (Te) behandelte. Dann entfernte er sich. Niemand weiß, wo er gestorben ist.“ (5, S. 358)
„Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
Dessen Namen auf dem Buche prangt!
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen,
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.“
Aus der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Lao-Tse in die Emigration“ von Bertold Brecht (1898-1956).
Viele Gelehrte bezweifeln diese wenigen historischen Daten, und es bleibt Raum für Vermutungen und Legenden. Unzweifelhaft ist die Existenz des oben erwähnten Buches, gleichviel wann und von wem es geschrieben wurde. Als Taoteking (Dao‑de‑jing) ist es eines der meist übersetzten Bücher aus der chinesischen Literatur, von dem auch deutsche Übersetzungen in jeder größeren Bibliothek zugänglich sind.
Das Taoteking
Uns Abendländern ist das Taoteking meist nur in Übersetzungen zugänglich, die um so schwieriger sind, als es sich im Original um altchinesische Texte handelt, deren genaue Bedeutung auch für chinesische Wissenschaftler nicht immer eindeutig ist, und entsprechend widersprüchlich sind die Auslegungen der alten Überlieferungen. Ein zentraler Begriff ist für Lao-Tse das Tao (Dao), und am Anfang des Taoteking steht ein berühmtes Wortspiel, das in seiner Widersprüchlichkeit an die asiatische Methode, Wahrheiten zu vermitteln, heranführt:
„Ein beschreibbares Tao wäre nicht das ewige Tao,
Ein nennbarer Name wäre nicht der ewige Name.“ (4, S. 103).
So sagt schon der erste Vers des Textes, dass das, was vermittelt werden soll, nicht zu beschreiben ist. Der Verfasser drückt sich bewusst unklar aus, bringt sogar widersprüchliche Aussagen, um dem Denken nicht zu viele Fixpunkte zu geben, die es nützen könnte, das Empfinden zu unterdrücken, das besser für die Aufnahme geistiger Erkenntnisse geeignet ist. Die Jahrtausende alte Tradition des Westens in philosophischen und theologischen Spekulationen hat es schwer mit den offenen und daher mehrdeutigen, manchmal unlogisch erscheinenden Aussagen, wie man sie Asien im Umgang mit höheren Einsichten verwendet.
Wörtlich heißt Tao „Weg“. Es wird häufig als Urprinzip, Urgewalt interpretiert, aus dem alles Sein, alle Dinge hervorgehen:
„Es existiert ein Wesen, vollständig vollendet, noch bevor Himmel und Erde bestanden. Ruhig und leer steht es allein und ändert sich nicht. Es dreht sich im Kreise und wird nie müde. Man kann es als die Mutter der Welt betrachten. Ich kenne seinen Namen nicht, und nenne es (daher einfach) Tao.“ (2, S. 53).
Zum Ursprung des Tao sagt Lao-Tse, dass er nicht wisse, von wem es stammt. Es trete jedoch ursprünglicher als die Götter auf, habe bereits vor Himmel und Erde existiert und sei als die Mutter der Welt zu betrachten. Demnach wäre das Tao bei Lao-Tse die Auswirkung der lebendigen Gesetze der Schöpfung, das Wirken des Gotteswillens? Auch wird der abendländische Gottsucher in den nicht leicht zu verstehenden Worten des Lao-Tse sogar ein Erkennen des einzigen Gottes erahnen, durch den alles Geschaffene erstand.
Im Abendland geht man in der Regel davon aus, dass die Erkenntnis des einzigen Gottes Moses und dem Volk Israel zu verdanken sei. Es gibt jedoch, davon unabhängig, auch in anderen Völkern – von den Alten Ägyptern bis zu indianischen Mythen – Anklänge an dieses Gotterkennen, so dass man auch dem Alten China und seinem Weisen Lao-Tse entsprechende Einsichten zutrauen kann.
Ein zweiter wichtiger Begriff des Taoteking ist das Te (De):
„Tao bringt die Dinge hervor, Te erhält sie.
Die Dingwelt formt sie, Macht vollendet sie.
So ist unter den zehntausend Wesen keines, was nicht Tao achtet und Te schätzt.
Tao achten und Te schätzen – niemand gab den Befehl dazu, und ewig geschieht es von selbst.“ (4, S. 106).
Man interpretiert diesen Text meist so, dass unter Te das Wirken des Tao in der Welt verstanden wird. Tao und Te – schöpfende und erhaltende Kraft – wirken demnach zusammen. Doch leider nicht immer so, wie es naturgemäß und recht wäre: Vom Tao gezeugt, unterliegt das junge, zarte Leben noch völlig der Wirksamkeit des Tao. Mit dem Erwachsenwerden wird jedoch ein zunehmender Anteil an Eigenleben wirksam, welcher den Einfluss des Tao immer mehr verdrängt:
„Wenn die Menschen zu leben beginnen, sind sie zart und schwach, wenn sie sterben, sind sie hart und stark. Wenn die zehntausend Wesen, Pflanzen und Bäume zu leben beginnen, sind sie zart und weich, wenn sie sterben, sind sie verdorrt und starr. Daher ist das, was hart und stark ist, Begleiter des Todes und das, was weich ist, Begleiter des Lebens.“ (2, S. 54).
In jedem Menschen wirkt also das Tao. Mit zunehmendem Alter entwickelt der Mensch nach taoistischer Lehre eine immer stärkere Betriebsamkeit, die ihn mehr und mehr von seinen wahren Wurzeln entfernt. Vor allem sind es egoistische Triebe, die den Menschen vom Tao abschneiden. Der Weg zurück zu den Quellen seiner Existenz ist im Taoismus die Befreiung von allen Begierden. Ununterbrochene Betriebsamkeit führt ins Verderben, daher heißt die Devise: Nicht‑Handeln! Dieses Nicht‑Handeln des Taoisten bedeutet ein Abschalten der menschlichen Betriebsamkeit, Besinnung auf die inneren Werte, damit sich das Tao im Menschen entfalten kann.
Konsequenter Weise hält Lao-Tse wenig von verstandlichem Wissen und irdischer Wissensvermittlung; er tritt für ein anspruchsloses Leben ein. Sein Ideal für das irdische Leben sind Kleinstaaten, die bescheiden und friedlich zusammenarbeiten, ohne Rivalitäten oder gar Kriege und ohne persönlichen Ehrgeiz. Auch soll der Mensch in die Wege der Natur nicht eingreifen.
Man muss dieses Idealbild vom friedlichen Leben auch vor dem Hintergrund der Epoche sehen: Lao-Tse lebte zur Zeit der „Streitenden Reiche“ (481-221 v.Chr.), während der China ein einziges Chaos rivalisierender und sich bekämpfender Kleinstaaten war, die eine Kette von Leid und Not über ihre Bürger brachten. Als Gegenreaktion musste fast zwangsläufig eine Lehre kommen, die nicht nur dem Krieg, sondern auch Neid, Ehrgeiz und all den anderen Untugenden abschwor, die immer wieder Anlass zu selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen gaben. Nicht zuletzt lassen sich Parallelen zum Buddhismus finden: Auch Buddhas „achtteiliger Pfad“ will zur Befreiung von Begierden, zur Lösung von irdischen Bindungen führen.
Lao-Tse und Konfuzius
Der Überlieferung nach sind sich der „Alte Meister“ und der zwei Jahrzehnte jüngere Konfuzius persönlich begegnet, und Zhuangzi berichtet im 4. vorchristlichen Jahrhundert von einem, vermutlich fiktiven, Zwiegespräch zwischen den beiden Opponenten.
- LAOTSE strebt nach Verinnerlichung, wendet sich von der Welt und ihrem Getriebe ab und predigt den Aufblick nach Oben.
- KONFUZIUS baut auf verstandliches Denken und gibt seinen Schülern vor allem irdische Verhaltensregeln, ohne sich mit dem Transzendenten, dem Jenseits, dem Göttlichen zu befassen, von dem er selbst sagt, dass er es mit seinen Mitteln nicht erfassen kann.
Den Überlieferungen folgend, macht Lao-Tse den Konfuzius auf die Sinnlosigkeit seines Weges aufmerksam; wohl wissend, dass durch verstandliche Bemühungen und aufs irdische Wohlergehen gerichtete Lehren die Menschheit moralisch nicht zu heben ist, und sagt ihm sein Scheitern voraus. Doch weder Konfuzius noch der Königshof, in dem die Begegnung stattgefunden haben soll, lassen sich durch die Worte des „Alten Meisters“ von ihren irdischen Zielen abbringen.
Es war und ist in China nicht anders als überall auf der Welt: Der Weg der Verinnerlichung, des geistigen Strebens, ist zwar bekannt, doch er bleibt Einzelnen, mittelalterlichen Mystikern oder sogenannten „Heiligen“ überlassen. Das dem äußeren zugewandte Denken, das Lösungen für die Tagesprobleme sucht ohne deren wahre Ursachen aufzuspüren, liegt den meisten Menschen näher, die materiellen Erfolg anstreben und sich nicht um seelische und geistige Entwicklung bemühen, deren Wert, gerade auch für das Leben auf Erden, nicht erkannt wird.
Lao-Tse sagte dazu: „Wenn die höchste Gattung Mensch das Tao (die Wahrheit) hört, bemüht sie sich, ihm gemäß zu leben. Wenn die Mittelmäßigen das Tao hören, scheinen sie es zu bemerken und doch nicht zu bemerken. Wenn die niedere Menschenart von Tao hört, bricht sie in Gelächter aus. Denn wenn das Tao nicht verlacht würde, wäre es nicht das Tao.“ (3, S. 14).
Der im Verlag der Stiftung Gralsbotschaft erschienene Band „Lao-Tse – Leben und Wirken des Wegbereiters in China“, ist in besonderer Weise dazu geeignet, die geistigen Gegensätze zwischen den Lehren des Lao-Tse und des Konfuzius zu erhellen.
Der Taoismus heute
Seit Lao-Tse hat der Taoismus viele Wandlungen erlebt. Von einer mehr philosophisch orientierten religiösen Lehre wurde er zu einer stark esoterisch geprägten Bewegung, die im Mittelalter sogar die Erscheinungen des körperlichen Zerfalls wie Alter, Krankheit und Tod durch Alchemie und Meditation überwinden wollte.
Endzeitliche Erwartungen eines „Neuen Reiches der Auserwählten“ tauchten auf, wie überhaupt viele Erscheinungen anderer Religionen im Taoismus praktiziert wurden (Mönchstum, Zölibat der Priester, Eremitentum usw.). Auch Auseinandersetzungen mit dem Buddhismus, dem der Taoismus in mancher Beziehung nahe steht, blieben z.B. im 13. Jahrhundert nicht aus.
Der Taoismus war stets eine typisch chinesische Religion, die sich neben dem Mutterland vor allem in chinesischen Siedlungsräumen (z.B. Taiwan, Hongkong, Südostasien) aber auch in Korea findet. Dort könnte der Taoismus auch die Kulturrevolution überdauern, die so gut wie alle Religionsausübung in Rotchina unmöglich machte. Heute gibt es auch in der Volksrepublik China wieder Taoisten und renovierte taoistische Tempel, und die alten Traditionen werden gepflegt. Aufgrund ihrer langen Geschichte und ihrer umfangreichen literarischen Tradition verwahren sich die Taoisten dagegen, als „Schamanen“ bezeichnet zu werden, die sich vor allem mit Esoterik befassen, sondern sie sehen im Taoismus eine Hochreligion.
Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus vertragen sich heute in Asien gut; sie gehen im Verständnis vieler Chinesen sogar ineinander über und ergänzen sich, so dass sich religiös orientierte Chinesen nicht selten allen drei Systemen gleichzeitig zugehörig fühlen. Man spricht von den „Drei Wegen, die ein Ziel“ haben, oder sagt, die drei religiösen Richtungen seien wie „drei Beine eines Dreifuß‑Gefäßes“.
Die Klassiker des Taoismus
Das Taoteking (Dao-de-jing):
Es ist das klassische, dem Lao-Tse zugeschriebene Werk. Heute ist man der Meinung, dass die Schrift unzweifelhaft der „Zeit der streitenden Reiche“ (Zhan‑guo‑Zeit, 421-221 v. Chr.) entstammt, und vermutlich nicht nur einen Verfasser hat. Möglicherweise stammt das Grundwerk von Lao-Tse, ergänzt und erweitert durch später hinzugefügte Textpassagen. Sein Inhalt ist schwer in andere Sprachen übertragbar, und einzelne Übersetzungen weichen entsprechend voneinander ab.
Das Buch Zhuangzi (Tschuang-Tse):
Der zweitwichtigste Vertreter der taoistischen Schule ist Zhuangzi (Meister Zhuang), der im 4. vorchristlichen Jahrhundert, also etwa 100 Jahre später als Lao-Tse lebte. Die Gedanken des Zhuangzi basieren auf den Lehren des Lao-Tse, bringen jedoch Differenzierungen und Erweiterung. Auch für Zhuangzi steht das Tao im Mittelpunkt als die allumfassende Urkraft, das alles einschließende Prinzip, durch das das Universum entstanden ist.
Asiaten neigen eben weniger zu religiösem Fanatismus oder gar zu Religionskriegen, was nicht bedeuten muss, dass sie ihre religiösen Lehren weniger ernst nehmen als andere Völker.
Über das Wesen des Tao aber meditiert man heute wie vor zweieinhalb Jahrtausenden:
„Das Tao ist ein Hohlgefäß,
Und sein Gebrauch ist unerschöpflich!
Unauslotbar!
Wie der Urquell aller Dinge,
Seine Kanten abgerundet,
Seine Schlingen aufgelöst,
Sein Licht abgeblendet,
Sein Wirbel untergetaucht,
Scheint es dennoch dunkel wie tiefes Wasser zu verharren.
Ich weiß nicht, wessen Sohn es ist,
Ein Bildnis dessen, was früher als Gott vorhanden war.“ (3, S. 56).
Literatur:
(1) Glasenapp, Prof. Dr. Helmuth v.: „Die nichtchristlichen Religionen“, Fischer, Frankfurt a.M, 1957.
(2) Ladstätter/Linhart: „China und Japan“, Carl Ueberreuter, Wien, 1983.
(3) Lin Yutang: „Die Weisheit des Lao-Tse“, Fischer, Frankfurt a.M., 1955.
(4) Moritz, Ralf: „Die Philosophie im alten China“, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1990.
(5) Tworuschka, Monika und Udo: „Religionen der Welt“, Orbis Verlag, München, 1996.