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Religionsgeschichte

Der erste Monotheist?

Veröffentlicht in GralsWelt 85/2014

War der alttestamentliche Abraham der erste, der den Eingottglauben verbreitete? Eine bibelhistorische Annäherung an das Leben des legendenumwobenen Stammvaters.

Viele Teile der Bibel sind den Historikern zufolge keine zuverlässigen Berichte, und von der Mehrzahl der biblischen Personen – besonders im Alten Testament – ist unsicher, ob und wann sie gelebt haben. (Vgl. „Das Moses-Rätsel“ und „Keine Posaunen vor Jericho“).

Da mag es überraschen, das die Existenz einer bedeutenden religiösen Persönlichkeit der Frühgeschichte, die Jahrhunderte vor Moses lebte, von den meisten Historikern als gesichert angesehen wird, obwohl eindeutige Beweise fehlen: Abram, der sich später Abraham nannte.

Für Juden und Christen ist Abraham zusammen mit seinem Sohn Isaak und seinem Enkel Jakob einer der drei „Stammväter“ oder „Patriarchen“ (nicht zu verwechseln mit „Patriarch“ als kirchlichem Amtstitel). Im Islam gilt Abraham als Prophet.

Der Genesis (dem ersten Buch Mose) zufolge ist Abraham der zehnte Nachkomme Noahs. Abraham lebte vermutlich zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, vielleicht in der Stadt Ur beziehungsweise deren Umgebung. Manche halten seinen Vater für einen Händler der Stadt, doch es scheint wahrscheinlicher, dass Abraham (im Umkreis von Ur als dem Ausgangspunkt seiner Wanderungen ?) in einem Nomadenzelt geboren und Ziegenhirte wurde.

„Und wer hätte einen schöneren Glauben, als wer sein Angesicht Allah ergibt und das Gute tut und die Religion Abrahams, des Lauteren im Glauben, befolgt; und Allah nahm sich Abraham zum Freund.“
Koran (4. Sure, 124).

„Es gibt im Grunde nur zwei Arten des Umganges mit der Bibel: Man kann sie wörtlich nehmen oder man nimmt sie ernst. Beides zusammen verträgt sich nicht.“                         Pinchas Lapide (1922–1997).

„Die größten und bedeutendsten Männer aller Zeiten, also auch der frühen Antike, haben stets nur an einen, rein geistigen Gott geglaubt.“
Ernst Curtius (1814–1896).

Ur und Haran zur Zeit Abrahams

Im vierten Jahrtausend vor Christus gab es in Mesopotamien bereits größere Städte wie Uruk und Ur. Um 2000 vor Christus – also zur Zeit Abrahams[1] – war Ur eine bedeutende Stadt am Euphrat, nahe dessen Mündung in den Persischen Golf. Ur war ein Handelszentrum mit Werkstätten, Webereien, Modegeschäften, Hafenanlagen, einem Tempelbezirk mit Zikkurat (Stufenpyramide), einem Herrscherpalast und Stadtmauern.

Im alten Mesopotamien wurden viele Götter verehrt: beispielsweise Adat der Wettergott; Inanna, Lebensspenderin und Vernichterin; Ninurta, der Kriegsgott; Schamasch, der Sonnengott; Sin, der Mondgott; Tiamat und ihr Gegenspieler Marduk (Weltschöpfungsmythos) und weitere. In dieser Götterschar gab es in der Regel einen Hauptgott und dessen Gemahlin[2]. Jede Stadt hatte außerdem ihre spezielle Schutzgottheit.

Auch wenn Abraham nicht in Ur[3] aufgewachsen ist, hat er diese Stadt (oder eine andere chaldäische Stadt, zum Beispiel Mari) wahrscheinlich besucht und einen Eindruck von den herrschenden Gottheiten erhalten. Verwirrte ihn diese Vielfalt der Götterkulte, die miteinander wetteiferten und sich wohl auch teilweise widersprachen?

Von Ur aus begab sich Abrahams Sippe auf eine weite Reise:
Terach nahm seinen Sohn Abram […], um in das Land Kanaan zu ziehen. Als sie aber nach Haran kamen, siedelten sie sich dort an.“ (1. Mose, 11, 31).

Das biblische Haran war ein Knotenpunkt von Karawanenstraßen. Es ließ sich durch einen „Tell Hariri“ genannten Schutthügel lokalisieren, wohl die Überreste des mesopotamischen Stadtstaates Mari. Ausgräber fanden zahlreiche beschriftete Tontafeln, sogar mit Hinweisen auf einen Stamm, der wohl mit den späteren Hebräern identisch war. (8).

Steuerflucht nach Kanaan

In der Genesis steht:
„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (1. Mose 12, 1).

Archäologen haben nach Gründen gesucht für die Auswanderung der Familie Abrahams: Überweidung, kriegerische Bedrohung, Wassermangel, Stammesstreitigkeiten?
Die Erklärung fand sich in Nachrichten auf Tontafeln, die in Mari ausgegraben wurden. Der Staat hatte begonnen, seine gesetzliche Ordnung und seine Verwaltung auf die Sippen in der Wüste auszudehnen. Dazu gehörte eine „Volkszählung“, die Registrierung der nomadisierenden Stämme. Diese wurden nervös; denn sie hatten wohl schon andernorts die Erfahrung gemacht, dass eine Registrierung der erste Schritt zur Besteuerung und zur Zwangsrekrutierung von Kriegern ist. Der Bericht eines Beamten auf einer Tontafel warnt seinen Herrscher:
„Zu dem Vorschlag der Benjaminiten-Zählung, über den Du mir schreibst, sage ich: Die Benjaminiten sind für eine Zählung ungeeignet. Tust Du es trotzdem […], so werden sie das Land verlassen und nicht zurückkehren.“ (6, S. 43).

Schon immer war es schwer, von Nomaden Steuern einzutreiben. Türkischen Beamten ist das in Arabien oder Nordafrika noch im 19. Jahrhundert oft genug misslungen. Und selbst in der Gegenwart schafften es durchtriebene Schafzüchter, Beamte der Europäischen Union zu prellen (3). Entsprechend verhielt sich vor viertausend Jahren auch die Sippe Abrahams: Sie zog weiter. Salopp könnte man Abraham als den ersten prominenten Steuerflüchtigen der Weltgeschichte bezeichnen!

Abraham, inzwischen der Schech (Oberhaupt) seiner Sippe, suchte ein freieres Gebiet. Durch Händler oder wandernde Hirten hatte er Kunde von dem „Purpurlande“ Kanaan erhalten, „in dem Milch und Honig flossen“. Es war dünn besiedelt, nicht Bestandteil eines Großreiches, und Steuereintreiber waren kaum zu befürchten.

Abraham durchzog Kanaan, musste (laut Bibel) vor einer Hungersnot nach Ägypten ausweichen und war an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt, bis ihm endlich seine große Erkenntnis wurde.

Melchisedek – ein wahrer Priester?

Nach einem erfolgreichen Kriegszug traf Abraham auf eine der merkwürdigsten Gestalten der Bibel:
„Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des höchsten Gottes. Er segnete Abram und sagte: Gesegnet sei Abram vom höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der höchste Gott, der deine Feinde an dich ausgeliefert hat. Darauf gab ihm Abram den Zehnten von allem.“ (1. Mose 14, 18–20).
Salem wurde in Jerusalem (Verbindung von Jehova mit Salem) umbenannt, und im Neuen Testament steht:
„Dieser Melchisedek […], dessen Name ‚König der Gerechtigkeit‘ bedeutet und der auch König von Salem ist, das heißt ‚König des Friedens‘; er, der ohne Vater, ohne Mutter und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner Tage und ohne Ende seines Lebens, ein Abbild des Sohnes Gottes: dieser Melchisedek bleibt Priester für immer.“ (Hebr. 7, 1–3).

Es gibt zahlreiche Spekulationen über Melchisedek, den zeitlich ersten der in der Bibel erwähnten Priester. (9).
Aus späterer jüdischer Sicht war er ein „Heide“[4]. Entspricht er dem sehr alten Idealbild eines Priesterkönigs, der beide Ämter – König und Hohepriester – harmonisch vereint? Oder ist er ein Sinnbild für Jesus? Melchisedek reicht Brot und Wein; nimmt er damit das Abendmahl vorweg?[5] Da er Abraham segnet, steht er in der spirituellen Hierarchie über diesem, und Steuern (den Zehnten) zahlt man nur einem Stärkeren. Hier findet sich auch die Legitimation für den Jahrhunderte lang von der Priesterschaft beziehungsweise der Kirche eingeforderten Zehnten.

Während sich die Bibel oft lang und breit über die Genealogie ihrer Helden auslässt, bleibt die sonst so wichtig genommene Abstammung bei Melchisedek im Ungewissen. Was also ist von diesem merkwürdigen Heidenpriester zu halten? War er vielleicht ein Produkt der Phantasie? Oder nichts weiter als der Schech eines Stammes, der von Abraham den Zehnten als Maut für seine Durchreise erpresste? Wurde Melchisedek in der Bibel dann zu einer mächtigen, hohen Geistpersönlichkeit hochstilisiert, um Abraham indirekt aufzuwerten?

Da Abraham mehrmals Engel erschienen sind, neige ich persönlich dazu, auch in Melchisedek – wenn nicht ein Symbol – ein höheres Geistwesen zu sehen, das aus der Anderswelt zu Abraham über den „höchsten Gott“ gesprochen hat. Eine Offenbarung, die für Abraham zum Schlüsselerlebnis wurde für seine Gotterkenntnis? (Die Annahme vieler UFO-Gläubiger, dass es sich bei Melchisedek um einen Außerirdischen gehandelt haben könnte, scheint mir persönlich weniger wahrscheinlich.)[6].

Ein Heroe des Glaubens

Ist es ein Zufall, dass die großen Religionen in der Wüste entstanden sind? Muss man lange durch die Wüste gewandert sein, bevor man das Höchste erfassen kann? Oder ist es der einem Stadtmenschen von heute fremde, tief beeindruckende Anblick eines klaren Nachthimmels voller glitzernder Sterne, der die Ewigkeit ahnen lässt und zum Glauben an Gott anregt?

Nachdem Abraham lange umhergezogen war, hatte er Visionen, in denen ihm Gott, der Herr, erschien (1. Mose 15). Im Alter von 99 Jahren (eine typische Symbolzahl) wurde Abraham für sich und seine Nachkommen ein Bund mit Gott gewährt, der diese Sippe aus der Vielzahl der anderen Völker der Welt heraushob. Abraham wird zu einem vielfach bewunderten Heroen des Glaubens, auf den sich Jesus (Joh. 8, 56) und Paulus (Röm. 4, 13) berufen und den Mohammed lobend erwähnt.

Auf Gottes Bund mit Noah (1. Mose 6, 18), der Berufung Abrahams (1. Mose 17, 2), dem von Gott mit Mose am Sinai geschlossenen Bund (2. Mose 19) und den dort übergebenen Zehn Geboten (2. Mose 20) beruht das Selbstverständnis der Juden als dem „auserwählten Volk“.

Was das Alte Testament der Bibel sonst noch über Abraham zu berichten weiß, ist unerheblich gegenüber seiner grundlegenden Erkenntnis vom Sein des größten Gottes.

Auch der Befehl Gottes an Abraham: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak […], und bringe ihn dort auf einem der Berge als Brandopfer dar“ (1. Mose 22, 2) ist so wohl nicht erteilt worden. Diese Opfererzählung ist eine alte sumerische Sage (1, S. 98), die Abraham angedichtet wurde[7]. Ob der Bibel-Autor damit zum Ausdruck bringen wollte, dass der allmächtige Gott Menschenopfer verabscheut?[8].

Der Glaube an den höchsten Gott

Ein Ahnen von dem Sein des höchsten, des alleinigen Gottes gab es schon in Naturvölkern und in vielen alten Völkern[9]. Ob im früh-indischen Rig-Veda, im Ägyptischen Totenbuch, im altpersischen Zoroastrismus („Ein persischer Wahrheitsbringer“, unter „Religionsgeschichte“), in den Spekulationen griechischer Philosophen oder in ostasiatischen Lehren wie in dem Lao-tse zugeschriebenen Tao-te-king. Die monotheistische Sonnenreligion Echnatons (Amenophis IV., 1364–1347 v. Chr.) entstand wohl nach Abrahams Zeit.

So gilt Abraham in der Regel als der Erste, der deutlich von dem einen, dem allmächtigen Gott sprach. Die drei „abrahamitischen Religionen“ (Judentum, Christentum, Islam) verehren ihn als den Begründer ihrer Religionen:
„Als Abraham neunundneunzig Jahre alt war, erschien ihm der Herr und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige. Geh deinen Weg vor mir und sei rechtschaffen!“ (1. Mose 17, 1).

Historisch gesehen ist spätestens seit Abraham die Idee von dem einen, dem allmächtigen Gott in der Welt. Diese Gottesidee wirkte weiter, über Jahrtausende hinweg. Sie wurde zur Grundlage von Weltreligionen und gehört zu den bedeutendsten Einsichten der Menschheit.

Literatur:
(1) Barthel, Manfred, Was wirklich in der Bibel steht, Econ, Düsseldorf 1987.
(2) Black, Jonathan, Die geheime Geschichte der Welt, Goldmann, München 2008.
(3) Der Spiegel, Nr. 14 vom 3. 4. 2010, S. 51.
(4) Scarre, Chris, Weltatlas der Archäologie, Südwest, München o. J.
(5) Thompson, J. A., Hirten, Händler und Propheten, Brunnen, Gießen 1996.
(6) Zierer, Otto, Ideen bewegen die Welt, Prisma, Gütersloh 1978.
(7) Wikipedia-Enzyklopädie, Artikel „Abraham“.
(8) Wikipedia-Enzyklopädie, Artikel „Mari (Stadt)“.
(9) Wikipedia-Enzyklopädie, Artikel „Melchisedech“.

Endnoten:
[1] In der „Patriarchenerzählung“ (1. Mose 11, 10–50, 26) werden Gebräuche beschrieben, die auf eine Zeit zwischen 2000 und 1400 v. Chr. schließen lassen, in der die Patriarchen nach Kanaan kamen. Eine genauere Zeitbestimmung ist kaum möglich.
[2] Die Kanaaniter verehrten Aschera und Baal als Hauptgötter, die Hebräer zuerst Aschera und Jahwe, bis Aschera verdrängt wurde.
[3] „In Chaldäa“ heißt so viel wie „Ur in der Ebene“. Wir würden heute „Ur in Sumer“ sagen.
[4] Zum Volk Israel gehört, wer den Bund mit Gott geschlossen hat (1. Mose, 17). Die Anderen sind die Gojim (Nichtisraeliten).
[5] Die symbolische Bedeutung von Brot und Wein soll schon aus sehr früher Zeit, lange vor Abraham, stammen. (Vgl. etwa Bernd Hercksen, „Vom Urpatriarchat zum globalen Crash“, Shaker Media, 2010, S. 103).
[6] In der kabbalistischen Tradition hat Melchisedek eine geheime Identität. Er ist dort Noah, der große Führer aus Atlantis, der der Menschheit die Landwirtschaft, den Anbau von Getreide und Wein gelehrt habe und nie wirklich gestorben, sondern in eine andere Dimension übergegangen sei. Er sei nun zurückgekehrt, um Abrahams spiritueller Lehrer zu sein und ihm höhere Weihen zu verleihen. (2, S. 247).
[7] Wie zu vielen biblischen Erzählungen gibt es auch hierzu esoterische Deutungen (2, S. 247).
[8] Menschenopfer hat es bei den Israeliten gegeben. In 5. Mose 18, 10 steht: „Es soll bei dir keinen geben, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt.“ „Durchs Feuer gehen“ bedeutet ein Brandopfer. In Richter 11, 30–39 glaubt Jiftach, er müsse sein Gelübde erfüllen, und bringt seine Tochter als Brandopfer dar.
[9] Vgl. dazu Ivar Lissner, „Aber Gott war da“, Walter, Olten 1960.