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Geschichte/Historik

Der vierte Reiter

Die Pest in Europa

(Veröffentlich in GralsWelt 20/2001)

Im 14. Jahrhundert raste der schlimmste aller bekannten Seuchenzüge durch die europäischen Lande: die Pest, von vielen mit dem „vierten Reiter“ der Apokalypse assoziiert.

Und es ist ein sagenhafter Irrtum, im „schwarzen Tod“ nur eine Krankheit erkennen zu wollen, der man mit den damaligen medizinischen Möglichkeiten nicht Herr werden konnte. Denn in Wirklichkeit durchlebte Europa in jenen Jahren den vielleicht tiefsten Einbruch seiner Geschichte.

Die Pest wandelte nicht nur das gesellschaftliche Bewusstsein, die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, sondern erschütterte nachhaltig auch den Bezug der Menschen zur Kirche, öffnete reformatorischen Bestrebungen und revolutionären neuen Gedanken die Tür. Es war eine Zeit, in der die Fragen nach dem Sinn des Schicksals und der Gerechtigkeit Gottes das Denken vieler Menschen beherrschte.

„Und siehe: ein fahles Pferd; seines Reiters Name war: Tod; in seinem Gefolge war das Totenreich, und ihm ward Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten durch Schwert, Hunger, Pest und Tiere auf Erden.“ (Offb. 6, 8).

Der schwarze Tod

Es begann 1347 in Kaffa, dem antiken Theodosia (heute Feodosia auf der Krim), damals eine genuesische Handelsniederlassung. Diese Stadt wurde von einem Tataren-Chan belagert, in dessen Heer eine Seuche ausbrach. Die Genuesen in Kaffa hofften, dass die Gefahr für die Stadt durch das massenhafte Sterben der Belagerer bald beendet sein würde.

Da griff der Chan zu einem der heimtückischsten Mittel aller Zeiten: Er ließ die zahlreichen, kaum mehr zu beseitigenden Pestleichen aus seinem Lager mit Katapulten in das belagerte Kaffa schleudern.

Die Verteidiger warfen die Leichen so schnell wie möglich ins Meer, doch die verseuchten Leichen nahmen bald so überhand, dass es nicht mehr gelang, sie so schnell zu beseitigen, wie sie über die Mauern flogen.

Jeder der Belagerten, der ein Schiff ergattern konnte, floh entsetzt aus der Stadt. Die Flüchtenden trugen die Krankheit in die Welt hinaus. Ihre Fluchtwege markieren Todesstreifen, die sich von Kaffa über Konstantinopel, Griechenland, Sizilien nach Neapel, Rom, Genua zogen. Im Jahre 1348 hatte der „Schwarze Tod“ Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Ungarn erreicht, und er wütete weiter.

Auf den Meeren trieben Geisterschiffe, deren gesamte Besatzung der Seuche erlegen war; sie wurden vermutlich zum Ursprung der Märchen und Sagen vom „Gespensterschiff“ und vom „Fliegenden Holländer“: „Durch so ein Totenschiff wurde 1349 der schwarze Tod auch nach Norwegen gebracht. Es verließ London, als die Pest ihren Höhepunkt erreicht hatte. Auf der Fahrt starb die ganze Mannschaft. Das Schiff wurde von Winden und Strömungen nach Bergen getrieben. Das ganze Domkapitel starb bis auf einen Domherrn. Auch der Erzbischof von Drontheim erlag damals der Pest. Flüchtlinge verbreiteten die Pest über ganz Norwegen, wo ein Drittel der Bevölkerung starb.“ (3, Seite 1201).

Bis 1350 hatte die Pest Dänemark, Schweden, Norwegen, Polen, Litauen und Russland erreicht. Skandinavische Schiffe brachten die Seuche nach Island, und die Siedlungen der Westlandfahrer in Grönland wurden so dezimiert, dass die wenigen überlebenden Pioniere leichte Beute für die Eskimos wurden.

Im Gefolge der Pest breitete sich Angst und Not aus; Handel und Verkehr erlahmten, wirtschaftlicher Zusammenbruch und Hungersnöte folgten. Die Schätzungen über die Menschenverluste schwanken zwischen einem Viertel und der Hälfte; man darf davon ausgehen, dass von 90 Millionen Europäern in drei Jahren 30 Millionen dahingerafft wurden. Manche Gebiete kamen glimpflich davon, doch gab es Städte, in denen 90 % der Einwohner starben.

Eine Strafe Gottes?

Die Menschen des 14. Jahrhunderts waren verzweifelt und fühlten sich der Pest als „Geißel Gottes“ hilflos ausgeliefert. Niemand verstand Ursachen und Übertragungswege, keiner konnte sich vor der Seuche schützen. Um der Ansteckung zu entgehen, wurden die absonderlichsten Maßnahmen versucht:

In Mailand wurde jedes Haus, in dem ein Pestkranker entdeckt wurde, zugemauert; die anderen Hausbewohner ließ man verschmachten. London schloss seine Tore, aber die Pest fand doch einen Weg in die Stadt, und nur jeder zehnte Londoner überlebte das Pestjahr.

In Venedig gab es für einlaufende Schiffe eine Wartezeit (erst 30, später 40 Tage, daher „Quarantäne“ von quaranta = vierzig). Doch die Quarantäne kam zu spät, und die Hälfte der Bewohner Venedigs starb.

Ärzte trugen Schutzanzüge und Masken mit langen Schnäbeln, in denen wohlriechende Kräuter steckten, um sich vor dem als ansteckend geltenden Gestank der Pestkranken zu schützen. Aber kein noch so ausgefallenes Mittel half. Auch der als Seher berühmte Nostradamus (Michel de Notredame, 1503-1566) arbeitete als Pestarzt und empfahl modernere Methoden als die meisten seiner Zeitgenossen, z. B. frische Luft und Hygiene; doch seine Frau und seine Kinder konnte auch er nicht retten und musste sie sterben sehen.

Keine Hypothese schien zu weit hergeholt, um Sinn und Ursache der Epidemie zu ergründen. Astrologen vermuteten Planetenkonstellationen oder Kometen als Auslöser des Unglücks. Andere sahen die Ursache in giftigen Gasen, die durch Erdbeben aus dem Inneren der Erde, der Hölle, entwichen seien, da es 1348 ein schweres Erdbeben mit dem Epizentrum in Kärnten gegeben hatte.

Viele glaubten sich von der hereinbrechenden Apokalypse überrascht. Weder Ärzte, noch die Wissenschaften wussten Rat, und die mächtige Kirche war hilflos.

Verzweifelte Menschen schlugen über alle Stränge, stürzten sich in Glücksspiele und wollüstige Vergnügungen, oder ergaben sich dem Trunk. Andere harrten mutig an ihrem Platz aus und opferten sich auf in der Pflege der Kranken. Keine der beiden Gruppen wurde von der Pest verschont, die Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, Kleriker und Laien, Gerechte und Ungerechte unterschiedslos dahinraffte.

Religiöser Wahn, Zweifel an Gott

„Das Konzeptionsjahr des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr der ,schwarzen Pest‘.“   (Egon Friedell).

Als sich zeigte, dass Wissenschaft und Kirche überfordert waren, verloren viele Menschen ihren Glauben und zweifelten an der Gerechtigkeit Gottes. Der Massen bemächtigte sich tiefe Verzweiflung und große Furcht. Schlimmer noch als die Angst vor dem Tode war das Grauen vor der Verdammnis, mit der die Kirche jeden bedrohte, der ohne Sterbesakramente aus dem Leben scheiden musste.

Während der Pest starben die Menschen oft so schnell, dass es unmöglich war, allen die Sakramente zu reichen, und viele auf schnellstem Wege verscharrt werden mussten. In Paris gab es z. B. auf dem Höhepunkt der Epidemie jeden Tag 800 Tote, in Wien bis zu 1000! Wer konnte da allen Sterbenden die Tröstungen des Glaubens zuteil werden lassen?

Papst Clemens IV., der sich in seinem Palast zu Avignon einschloss und die Seuche überlebte, verkündete einen allgemeinen Ablass für die an der Pest Verstorbenen, um etwas zur Beruhigung der Menschen beizutragen, die das Vertrauen zur Kirche verloren.

Als alles nichts fruchtete, flüchteten sich Tausende in religiösen Wahn, in Mystik und Askese. Geißlerzüge pilgerten durch die Lande, schlugen als Buße sich selbst und andere, besonders Pestkranke, blutig, und hofften durch Selbstbestrafung Gnade zu erzwingen und der Pest zu entrinnen. In der Tat trugen sie zu deren Verbreitung bei.

Besonderer Hass richtete sich gegen die Juden, die als Brunnenvergifter beschuldigt und für die Seuche verantwortlich gemacht wurden. Dass sie genauso starben wie die Christen, spielte für diese todbringenden Verleumdungen keine Rolle. In Freiburg, Köln und München wurden so gut wie alle Juden ermordet.

Das geordnet scheinende Weltbild des Mittelalters geriet ins Wanken: Über allem stand Gott, vertreten durch die alleinseligmachende Kirche als geistige Gewalt. Für die irdischen Belange waren die Fürsten zuständig, die als „Herrscher von Gottes Gnaden“ im Einklang mit der Kirche, vielleicht sogar ihr untertan, die weltliche Gewalt ausübten.

In der Pestzeit schwand das Vertrauen zur Kirche, zur Obrigkeit, sogar zu den nächsten Verwandten. Familien flohen vor erkrankten Angehörigen, Eltern ließen ihre Kinder einsam sterben, und geistlicher Trost oder ein frommer Lebenswandel, halfen so wenig wie brutale Gewalt oder wissenschaftliche Hypothesen. Während sich Fanatiker dem religiösen Wahn der Geißler hingaben, begannen andere an den Grundwahrheiten des katholischen Glaubens zu zweifeln.

Dieser keimende Zweifel sollte die Wertvorstellungen des Abendlandes tief erschüttern. Er ebnete Reformatoren wie Johann Huß (1369-1415), Martin Luther (1483-1546), Johann Calvin (1509-1564) und vielen weiteren Predigern eines reineren Glaubens die Wege. Auch die Unzufriedenheit mit weltlichen Herrschaftssystemen wurde deutlich und zeigte sich in Bauernaufständen und Bauernkriegen, wie der 1358 in Frankreich rücksichtslos niedergeschlagenen „Jacquerie“.

Die Folgen der Pest

Als die schwarze Pest nach schrecklichen Jahren von selbst erlosch, hatten sich die Verhältnisse in Europa gewandelt:

  • Während der Epidemie hatte der Glauben an die sich allmächtig und allwissend gebende Kirche gelitten.
  • Das Vertrauen zu den hilflosen, offensichtlich unwissenden Obrigkeiten war erschüttert.
  • Die Menschen verstanden Gott nicht mehr.
  • Das Land war entvölkert.

Doch diese Entvölkerung hatte für die Überlebenden günstige Folgen: Verstorben waren während der Pest am zahlreichsten die bereits durch andere Umstände Geschwächten und Kranken. Tuberkulose und Lepra waren nach der großen Pest weitgehend verschwunden. Es gab reichlich Platz für Felder und genug Wohnraum. Sogar die Fürsten, denen Untertanen fehlten, mussten gelegentlich einige Zugeständnisse machen, die das Leben der einfachen Menschen erleichterten.

Auf die schrecklichen Pestjahre folgten Jahrzehnte und Jahrhunderte eines (teilweise sogar befreienden) Aufbruchs: Seefahrer entdeckten die Größe der Erde, Reformatoren verlangten Neuorientierungen im christlichen Glauben, Wissenschaftler knüpften an altgriechische Lehren an und wagten ketzerische Gedanken auszusprechen, die das Selbstverständnis der europäischen Menschen in der Zukunft drastisch verändern würden.

Hexenjagd aus Kalkül?

Das Ende des religiösen Aberglaubens war allerdings noch nicht gekommen; im Gegenteil: in folgenden Jahrhunderten wütete aus zunächst unverständlichen Gründen die Hexenjagd. Nach Heinsohn und Steiger (2) war die Hexenverfolgung „nicht nur ein Produkt Geisteskranker, nicht Hysterie einzelner Staats- und Kirchenmänner“, sondern aus „exaktem, politischen Kalkül“ entwickelt worden: Um mit den Kräuterfrauen „das alte Volkswissen über Geburtenkontrolle auszurotten“, und so zu erreichen, dass mehr Kinder empfangen und aufgezogen wurden, als für die Reproduktion der Familien nötig waren. Die Länder waren nach der großen Pest entvölkert, eine „verstärkte Menschenproduktion“ schien nötig, um die feudale Herrschaft von Kirche und Staat zu sichern.
Falls diese Hypothese zutrifft, die sich gut mit anderen Forschungsergebnissen verträgt, war die große Pest auch Anlass, die seit der Antike von allen Völkern praktizierte Geburtenkontrolle zur Todsünde zu erklären und eine Sexualmoral zu entwickeln, die nichtchristlichen Völkern, bei denen man fast nur Wunschkinder kannte, fremd und unheimlich war. Die Bevölkerungsexplosion unserer Tage wäre so gesehen eine heute erst in vollem Umfang erkennbare Pestfolge, für die Kirchenmänner und Fürsten gleichermaßen verantwortlich zeichnen.

Erinnerungen

Die Schrecken der Pest wurden lange nicht vergessen. An vielen Plätzen kann man bis heute Pestsäulen oder Pestkapellen finden. Der alle sieben Jahre in München aufgeführte Schäfflertanz, Passionsspiele an verschiedenen Orten, erinnern an die große Katastrophe des 14. Jahrhunderts oder an später noch folgende Pestjahre.

Die letzte größere Pestepidemie Europas gab es 1721 in Marseille. Erst im Jahr 1894 entdeckte Alexander Yersin (1863-1943), mit primitivsten Voraussetzungen unter Lebensgefahr arbeitend, das Pestbakterium. Nun, in der mikrobiologischen Ära, waren Ursache und Übertragungswege der Pest erkennbar, Vorbeuge und Heilung wurden möglich. –

Lesen Sie dazu auch unter „Merkwürdige Geschichten“ den Beitrag „Als Krankheiten Geschichte schrieben„.

Literatur:
1 Friedell, Egon „Kulturgeschichte der Neuzeit“, C.H. Beck, München, 1931.
2 Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto „Das Ende der weisen Frauen“, März Verlag, Herbstein 1984.
3 Winkle, Stefan: „Geißeln der Menschheit“, Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich, 1997.
4 Zierer, Ott:o „Kultur- und Sittenspiegel“ Bd. II, Prisma, Gütersloh, o. J.