Kategorien
Buch- und Filmbesprechungen

Newtons Koffer

Von Federico Di Trocchio

Campus Verlag, Frankfurt/Main 1998, ISBN 3-593-35976-6.

Es gibt eine Menge wissenschaftlicher Bücher unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichem Niveaus. Eines der interessantesten und witzigsten, das zugleich gut lesbar ist, verfasste der Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Lecce (Italien), Federico Di Trocchio. Als Fachexperte beschreibt er die Arbeiten vieler, von den orthodoxen Wissenschaftlern als „Wirrköpfe“ abgetaner, genialer Außenseiter. Zugleich beweist Trocchio, dass heute die Vorurteile moderner Wissenschaftler mit gleicher Starrheit verteidigt werden wie einst die religiösen Dogmen des Mittelalters. In beiden Lagern – Wissenschaften wie Kirchen – sind Prediger persönlicher Freiheit und Toleranz Mangelware.

Eine Leseprobe aus diesem Buch, die unseren Begriff von Wissenschaftlichkeit in einem neuen Licht erscheinen lässt, mag das Interesse für dieses Buch wecken. 

„Als Newton starb, hinterließ er einen Koffer, der zur großen Enttäuschung seiner Enkelin und Erbin Catherine Barton nur Papiere enthielt: eine enorme Menge von Aufzeichnungen, insgesamt 25 Millionen Wörter. Viele Notizen behandeln, wie nicht anders zu erwarten, Mathematik und Physik, aber der größte Teil, wer hätte das je gedacht, Alchimie und Theologie: Seite um Seite über die Umwandlung der Elemente, den Stein der Weisen, das Lebenselixier, gefolgt von langen Interpretationen der Apokalypse und der Prophezeiungen Daniels – alles streng häretisch. Das reicht von der Ablehnung des Dogmas der Dreifaltigkeit bis zur Identifizierung der katholischen Kirche mit dem Drachen der Apokalypse und des Papstes mit dem Antichrist.

Der Testamentsvollstrecker Thomas Pellet, empfahl weise, die Papiere verborgen zu halten. Die Tochter von Catherine Barton, Catherine Conduit, brachte sie als Mitgift in ihre Ehe mit John Wallop ein, dem Viscount of Lymington, der die Papiere derart schätzte, dass er sie in seinem Schloss Hurstbourne Park in North Hampshire begrub, wo sie 130 Jahre blieben.

Einer der wenigen, die das Privileg hatten, den Koffer zu durchstöbern, war Bischof Samuel Horsley, Herausgeber des Gesamtwerkes von Newton, der schockiert den Deckel schloss und mit niemand darüber sprach.

1872 schickten die Erben Portsmouth die Papiere nach Cambridge, wo eine namhafte Kommission ein akkurates Inventar erstellte, die Aufzeichnungen von wissenschaftlichem Interesse aussortierte und kaufte und den Rest nach Hurstbourne zurücksandte.

Da die Wissenschaft sie hartnäckig ablehnte, wurden die übrigen Papiere 1936 dem Auktionshaus Sotheby’s anvertraut, um sie an den Meistbietenden zu verkaufen. Die Aufzeichnungen über Alchimie erwarb der große Ökonom John Maynard Keynes und schenkte sie dem Kings’s College in Cambridge. Andere Manuskripte wurden getrennt verkauft und sind heute als Besitz verschiedener Institutionen über Amerika und Großbritannien verstreut. Die Papiere von theologischem Interesse, die am geringsten geschätzt wurden, erwarb der Arabist Abraham Shalom Yahuda, der sie ohne Erfolg den Universitäten von Harvard, Yale und Princeton anbot. Schließlich hinterließ er sie verzweifelt dem Staat Israel. Nach einigen Jahren der Unentschlossenheit nahm sich 1969 die Bibliothek der Universität von Jerusalem ihrer an, aber niemand machte sich die Mühe, sie zu studieren. Kürzlich hat sie der Wissenschaftshistoriker Maurizio Mamiani wieder ausgegraben.

Aber hat sich die Mühe gelohnt? Ich würde sagen ja, weil die Aufzeichnungen nicht nur ein neues Licht auf die verschrobene und komplexe Persönlichkeit eines der größten Genies der Menschheit werfen, sondern auch zeigen, wieviel auf dem Grund des wissenschaftlichen Unternehmens noch heute unweigerlich magisch und esoterisch bleibt. Die alchimistischen und theologischen Spekulationen Newtons können nicht bloß, wie es noch heute Richard Westfall tat, der jüngste und bedeutendste Biograph Newtons, als anderes, unerwartetes und bizarres aber wissenschaftlich irrelevantes Gesicht eines großen Genies angesehen werden. Heute schält sich eine andere und revolutionäre Sichtweise heraus: Der wahre Newton ist der Alchimist und Theologe, weil aus diesen Studien nicht nur die Ziele der Philosophia naturalis principia mathematica geboren wurden, sondern auch die Methode dieser Bibel der modernen Physik.

Die von Mamiani herausgegebene Ausgabe der ersten, bislang unveröffentlichten Fassung der Tratto sull Apocalisse („Abhandlung über die Apokalypse“) trägt zu dieser neuen Sicht entscheidend bei. Sie zeigt, dass Newton die regulae philosophandi, den logischen Kern seiner wissenschaftlichen Methode, ursprünglich ausarbeitete, um die Sprache der Heiligen Schrift und besonders der Apokalypse zu interpretieren. Erst später wendete er sie auf die Physik an. Und dieser Gebrauch der Methode liegt nicht nur zeitlich früher. Newton war überzeugt, dass es nur eine Wahrhaftigkeit gibt und Gewissheit nur auf einem Weg zu erlangen ist: durch die Beherrschung der Bildsprache der Prophezeiungen.

Er fand den Schlüssel dieser Sprache in 70 Definitionen und 16 Regeln, die er in Wirklichkeit, wie Mamiani zeigt, aus einem Logikhandbuch von Robert Sanderson übernahm, das er als Student gelesen hatte. Die wissenschaftliche Methode, die in der Physik verwendet wird, ist nichts anderes als eine Vereinfachung und Reduktion dieser Regeln, weil die Welt der Physik für Newton den am leichtesten zu begreifenden Aspekt der Realität darstellte. Komplizierter dagegen war die Chemie, wo seiner Meinung nach eine direktere Verwendung der Bild- und Symbolsprache der Propheten erforderlich war.

Die wissenschaftliche Methode war also für Newton nichts anderes als eine vereinfachte Version der korrekten Interpretationsmethode der Prophezeiungen: Die Kenntnis der Heiligen Schrift bildete das Fundament und die Voraussetzung der sicheren und vollständigen Erkenntnis der physischen Welt. Galilei, der riskiert hatte, verbrannt zu werden, weil er das Gegenteil behauptet hatte, ruhe in Frieden.

Diese kuriose Verflechtung von Theologie, Alchimie und Wissenschaft mag vielen interessant, aber veraltet und für die Wissenschaft im Grunde irrelevant erscheinen. Aber ist es wirklich so unwichtig, dass Newton erst seine Principia schuf, nachdem er Jahre als Magier, Alchimist und Theologe verbracht hatte? Ist es nicht vielmehr so, dass sich hinter jedem Wissenschaftler noch heute ein Koffer Newtons verbirgt? Die Nachforschungen der Historiker legen genau dies nahe.

Was bei den theologischen und esoterischen Texten Newtons überrascht, ist die fast pathologische Forderung nach Gewissheit und endgültigen und vollständigen Erklärungen. Der große Isaak verheimlicht nicht, dass er sich im Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs und des Jüngsten Gerichts für den letzten und endgültigen Deuter der Heiligen Schrift hält.

Ähnlich präsentierte er sich in der Physik als Autor einer sicheren, endgültigen und vollständigen Erklärung des Universums, und mehr als 200 Jahre lang gab ihm die Wissenschaftswelt recht. Dann kamen der Elektromagnetismus, Einstein, die Atomphysik und die Quantenmechanik, und es schien fast, dass man wieder bei Null beginnen müsse. Die totale Gewissheit ist in eine unendliche Zahl von Zweifeln und Hypothesen zersprungen.

Heute geben sich die Wissenschaftler, belehrt durch die Geschichte und den Philosophen Karl Popper, überzeugt, dass ihre Theorien weder sicher noch endgültig sind. Aber warum behauptet Stephen Hawking dann weiterhin, dass eine allumfassende Theorie in Sicht sei und die Physik kurz davor stehe, sie zu formulieren? Warum schreiben theoretische Physiker wie Paul Davies Bücher wie Gott und die moderne Physik?

Die Wahrheit ist, dass die Wissenschaft anscheinend nie die Idee akzeptiert hat, dass ihre eigene immer nur die vorletzte Version der Wahrheit ist, wie Jorge Luis Borges sagen würde. Wonach sie heimlich weiter strebt, ist die Gewissheit, die möglichst totale und endgültige Sicherheit. Noch heute kann daher der Kittel des Wissenschaftlers nicht den Mantel des Magiers und die Stola des Priesters verbergen. So sehr er versucht, seine fernen Ursprünge zu leugnen, bleibt der Wissenschaftler immer kaum merklich, aber dauerhaft mit der Religion und der Magie verbunden, den Berufen seiner Vorgänger. Dieses Band wird um so sichtbarer, je mehr er sich und andere davon zu überzeugen sucht, dass er die einzig mögliche Wahrheit gefunden hat. Gerade wenn er verssucht, rational zu beweisen, den Schlüssel zum Universum zu besitzen, tut er der Vernunft unrecht und wird wieder zum Magier, und gerade, wenn er andere Meinungen kategorisch zurückweist, wird er wieder zum Priester.

Offenbar muss man daraus den Schluss ziehen, dass der Wissenschaftler seinen Beruf nicht gut ausübt, wenn er nicht ein bisschen Magier und ein bisschen Priester bleibt. Der Grund liegt beinahe auf der Hand, und Einstein hat ihn in einem bekannten Aufsatz über Wissenschaft und Religion genannt: Ohne das Irrationale wüsste der Wissenschaftler weder, wohin er gehen noch was er suchen sollte. Solange Computer keine Träume, Sehnsüchte, Sympathien, Ängste, Obsessionen und Paranoia haben, also alle Symptome der Irrationalität, werden sie weder etwas schaffen noch die Wissenschaft voranbringen können. Denn es ist diese dunkle und trübe Quelle, aus der die menschliche Rationalität schöpft, um immer komplexere Bilder der Wirklichkeit zu ersinnen.

Nicht nur können wir uns dem Irrationalen nicht entziehen, wir sollten es auch gar nicht. Wir müssen uns damit abfinden, damit zu leben, es nutzbringend einzusetzen und lediglich vermeiden, in Wahn und Obskurantismus zurückzufallen. Das ist nicht leicht, aber möglich. Es reicht, sich wie Wissenschaftler und nicht wie Magier oder Priester zu benehmen.“