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Wirtschaft und Soziales

Wirtschaftskrise und Weltverschwörung

Hintergründe der Fehlentwicklungen – ein Überblick

(Veröffentlicht in GralsWelt 69/2012).

Es ist fast ein Allgemeinplatz geworden, in katastrophalen Einbrüchen nicht Krisen zu sehen, sondern die Chancen zu betonen, die in einer Krise liegen. Dabei geht es einerseits um Naturkatastrophen wie Trockenheit, Überschwemmungen, Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche, oder gar um einen zivilisationsgefährdenden Impakt (Einschlag eines Planetoiden), der uns, statistisch betrachtet, treffen könnte. 

Solche unabwendbaren Katastrophen muss der Mensch nach allgemeiner Übereinstimmung über sich ergehen lassen und danach, so gut es geht, aufräumen und neu aufbauen. 

„Die Dinge sind dazu da um das Leben zu gewinnen, doch das Leben ist nicht dazu da, um Dinge zu gewinnen.“               Lao Tse.

„Ich glaube ernsthaft, dass Bankinstitute gefährlicher sind als stehende Armeen.“ 
Thomas Jefferson, 3. Präsident der USA, 1816.

Anders bei den von Menschen gemachten Krisen, wie Kriegen, Revolutionen, atomaren oder ökologischen Katastrophen, Wirtschaftszusammenbrüchen, Finanzcrash, Überschuldung oder Verarmung der Staaten. Hier sind die Entscheidungsträger zur Verantwortung zu ziehen; denn es kann nicht angehen, dass zum Beispiel Politiker an ihren Fehlleistungen grundsätzlich nicht schuld sein wollen oder die eigene, persönliche Verantwortlichkeit ableugnen[i].

Ferner ist dringend zu fragen, ob nicht Fehler im System selbst es zu leicht machen, dass von Machtwahn, Hybris oder Geldgier besessene Persönlichkeiten ihre niederen Triebe in großem Umfang umsetzen und ganze, weltweite Systeme ins Wanken bringen können. So ist es nämlich bei unserer derzeitigen Weltwirtschaft.

Es gibt gute Gründe zu der Annahme, dass das moderne, kapitalistische Wirtschaftssystem mit ganz grundlegenden, funktionellen und strukturellen Mängeln behaftet ist.

Im Nachfolgenden wird versucht, aus subjektiver Sicht einen Überblick zu geben über die von den verschiedensten Seiten vorgebrachten Kritiken an unserer kapitalistischen Weltwirtschaft. Es kann sich nur um Denkanstöße handeln, die einige Facetten der Problematik grob umreißen.

Die alten Wurzeln des Kapitalismus

Der Begriff „Kapitalismus“ wurde von der Mitte des 19. Jahrhunderts an verwendet und vor allem durch Karl Max (1818–1883) bekannt. Im engeren Sinne beginnt die Geschichte des Kapitalismus im 18. Jahrhundert. Doch erlaube ich mir, die Ursprünge viel weiter zurück zu suchen.

Zu den Merkmalen des Kapitalismus gehört die Bedeutung des materiellen Eigentums. Die überragende Bedeutung des irdischen Besitzes begann beim Übergang der Kulturen vom Jäger und Sammler zum Nomaden und zum Bauern.

Vor etwa 12.000 Jahren – im Neolithikum (Jungsteinzeit) – wurde Eigentum an Vieh, Häusern, Grund und Boden, bebauten Feldern usw. überlebenswichtig. (Vgl. „Der gewalttätige Mensch“, unter „Geschichte“).

Hat bereits damals ein Streben nach irdischen Gütern begonnen, das inzwischen weltweit fast alle Menschen – mehr oder weniger – im Griff hat? Jedenfalls gelten seither die materiellen Werte als das entscheidende, das in erster Linie anzustrebende Besitztum.

Daraus hat sich schließlich der Ansatz des modernen Menschen entwickelt, sich rigoros den Reichtum der Natur (und sogar anderer Völker) anzueignen, ohne selbst zur Förderung der Natur und damit zur Schöpfung beizutragen. Ein elementarer Verstoß gegen das geistige Gesetz vom Ausgleich zwischen Geben und Nehmen, auf dem natürliche Gleichgewichte basieren.

In frühen Kulturen waren sich die Menschen noch ihrer Übergriffe auf die Natur bewusst, weshalb sie mit verschiedensten Ritualen, Opfern, Gebeten die beleidigten Naturwesen oder Götter zu versöhnen suchten.

In der Antike fanden sich dann schon die ersten, fast „modernen“ Ausprägungen des Kapitalismus in Form einer brutalen Ausbeutung von Menschen und Natur.

Die antiken Reiche basierten auf Gewalt, rücksichtsloser Sklavenwirtschaft und ignorantem Umgang mit der Natur. (Vgl. „Karthago – der erste kapitalistische Staat?, unter „Wirtschaft und Soziales“).

Schon Platon (427–347 v.Chr.) schrieb in „Kritias“ von der Zerstörung Attikas infolge des Abholzens seiner Wälder, und der römische Naturforscher Plinius (23–79) sprach von Klimaänderungen infolge menschlicher Eingriffe.

Der Mittelmeerraum leidet bis heute unter diesen schon in der Antike eingeleiteten Naturzerstörungen, zum Beispiel durch Erosion.

Im Mittelalter ging die Entwaldung in Mitteleuropa und auf den britischen Inseln weiter. Besonders für Schiffbau und Metallgewinnung wurde mehr Holz gefällt als nachwachsen konnte. Europa mit seiner zunehmenden Bevölkerung wäre ohne die Entdeckungen der großen Seefahrer in schwere Wirtschaftskrisen geraten.

Millionen Menschen blieben auf der Strecke…

Vom 13. Jahrhundert an erlangte mit dem Aufkommen des Fernhandels der Handelskapitalismus zunehmende Bedeutung. Zunächst durch den Orienthandel mit Seide und Gewürzen. Dadurch flossen Gold und Silber – die auf dem internationalen Markt überall als Geld akzeptiert wurden – nach Asien ab; Europas Wirtschaft litt unter Geldmangel. 

Nach der Entdeckung Amerikas waren die spanischen und portugiesischen Kolonialisten vor allem an Edelmetallen interessiert. Die Gold- und Silberschätze der Azteken und Inkas in Form von Kunstgegenständen wurden völlig geplündert. Dann mussten die Indios in Gold-, Silber-, Quecksilber- und sonstigen Bergwerken unter unerträglichen Bedingungen fronen. Unzählige starben an Unterernährung und Erschöpfung; die indianischen Zwangsarbeiter wurden bald knapp und zum Teil von schwarzen Sklaven aus Afrika ersetzt. (Vgl. „Wie religiöser Fanatismus Länder und Reiche ruinierte“ in „Kurz, knapp, kurios“ S. 346 ).

Etwa zwischen 1680 und 1807[ii] bildete der „Dreieckshandel“ einen – für das kapitalistische Denken typischen – Höhepunkt an Menschenverachtung:

„Von Europa aus fuhren im Oktober die mit Feuerwaffen, Stahl- und Bronzebarren, grobem Tuch, Glasperlen und Manufakturwaren beladenen Schiffe an die westafrikanische Küste, wo die Ladung gegen Sklaven eingetauscht wurde. Danach, ab etwa Anfang Dezember, steuerten die Schiffe die Karibik an, wo vom Erlös der Sklaven landwirtschaftliche Erzeugnisse, wie grober Zucker, Rum und Melasse sowie Baumwolle, erworben wurden. Ab April segelten die Schiffe, überwiegend mit Zuckerprodukten beladen, in ihre Heimathäfen zurück, um die Ladung auf dem europäischen Markt mit Gewinn zu verkaufen.“
(Zitat aus „Wikipedia“, „Atlantischer Dreieckshandel“). 

Die wenigsten Sklaven wurden von den Weißen selbst eingefangen. Die allermeisten von schwarzafrikanischen Häuptlingen oder auch arabischen Sklavenhändlern eingehandelt. Heute wollen die Afrikaner und die Araber von ihrer Beteiligung am Sklavenhandel – die nicht weniger verbrecherisch war – nichts mehr wissen, und die Medien kennen meist nur den Sklavenhandel der Europäer. 

Ein großer Teil der Sklaven überlebte die unmenschlichen Bedingungen der schrecklichen Reise über den Atlantik nach Amerika nicht. Doch die mit dem Dreieckshandel erzielten Gewinne waren exorbitant. Trotz aller Risiken durch Schiffbruch, Seeräuber und Sklaven, die den Transport nicht überlebten, verzinste sich das eingesetzte Kapital mit 15 Prozent und mehr. (Vgl. „Das Zong-Massaker“ unter „Merkwürdige Geschichten“).

Nach neueren Schätzungen wurden insgesamt etwa 20 Millionen Sklaven in Amerika angelandet. Zählt man die Verluste bei der Sklavenjagd und beim Seetransport hinzu, so dürften insgesamt 40 Millionen Afrikaner vom Sklavenhandel der Europäer betroffen gewesen sein (2, S. 56).

Von arabischen Sklavenjägern und Sklavenhändlern wurden übrigens im Lauf der Jahrhunderte – teilweise noch bis heute – mehr schwarze Sklaven nach Nordafrika und in den Nahen Osten verschleppt, als von den Europäern in die „Neue Welt“. Ein unerhörter Blutzoll für Schwarzafrika.

Durch den atlantischen Dreieckshandel wurden die Kapitalien angehäuft, die die Finanzierung der ersten industriellen Revolution ermöglichten. (Vgl. „Eine ewige, unvermeidliche Einrichtung?“, in „Kurz, knapp, kurios“ Seite 341).

Sozialstaat USA: Unerfüllte Ankündigungen … 
In einer Rede zur Lage der Nation zum Neujahr 1944 kündigte der 32. Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin Delano Roosevelt (1882–1945), eine Ergänzung zur Verfassung an, mit einem Katalog einschneidender Sozialreformen. Er umfasste: 
• das Recht auf nützliche, einträgliche Arbeit und das Recht genug zu verdienen; 
• das Recht auf angemessene Ernährung, Kleidung und Erholung; 
• das Recht jedes Landwirtes, mit seinen Produkten genug zu verdienen um sich und seiner Familie ein gutes Leben zu sichern; 
• das Recht des Unternehmers, ob groß oder klein, in einer Atmosphäre der Freiheit Handel zu treiben; Freiheit vor unlauterem Wettbewerb und Beherrschung durch Monopole im eigenen Land und im Ausland;  
• das Recht jeder Familie auf ein anständiges Zuhause; 
• das Recht auf angemessene medizinische Versorgung und die Möglichkeit, die Gesundheit zu erhalten und zu genießen; 
• das Recht auf angemessenen Schutz vor Existenzängsten im Alter, vor Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit; 
• das Recht auf gute Ausbildung. 
„Alle diese Rechte bedeuten Sicherheit. Und wenn dieser Krieg gewonnen ist, müssen wir bereit sein, diese Rechte umzusetzen um Glück und Wohlergehen der Menschen zu sichern. Denn ohne Sicherheit im eigenen Land kann es keinen dauerhaften Frieden in der Welt geben.“  
(Aus „Kapitalismus – Eine Liebesgeschichte“, Film von Michael Moore, 2009). 
Ein gutes Jahr später starb Roosevelt. Von den angekündigten Sozialreformen war nach gewonnenem Krieg im Siegesrausch keine Rede mehr.

Die grenzenlose Anhäufung von Kapital

Für den Kapitalismus typisch ist, dass sich ein großer Teil des Kapitals in wenigen Händen ansammeln kann. Dabei ist zunächst unerheblich, ob es sich um „Produktivkapital“ (bebaubares Land, Fabriken, Maschinen, Gebäude usw.) oder – wie besonders in neuerer Zeit – um Geldkapital handelt.

Wenn sich das Kapital an wenigen Punkten oder in der Hand von wenigen Personen konzentriert, so muss es zwangsläufig an anderer Stelle fehlen. Kommt noch die Verzinsung von Geld hinzu – die in allen Hochreligionen verboten ist –, so gibt es für die Kapitalakkumulation kaum noch Grenzen. Dann bilden sich kapitalkräftige Machtzentren heraus, die über genug Einfluss verfügen, um durch Korruption oder Gewalt Regierungen in ihrem Sinne zu lenken.

Wird diesem – in der kapitalistischen Wirtschaft als systemimmanent angelegten – Konstruktionsfehler nicht durch gesetzliche Maßnahmen entgegengesteuert, so muss auf längere Sicht ein großer Teil der Bevölkerung verarmen, während sich eine kleine, sehr vermögende Clique fortlaufend bereichert. Nicht umsonst wurde bei den Revolutionen verschiedener Jahrhunderte fast immer eine „Bodenreform“ gefordert, eine Neuverteilung des extrem ungleich verteilten Eigentums. Nach dem Zweiten Weltkrieg sprach man in Deutschland von „Lastenausgleich“.

In neuester Zeit bietet sich den Kapitaleignern durch die Globalisierung die Möglichkeit, staatlichen Eingriffen zu entfliehen. Manche Staaten werden erpressbar durch die Drohung, das Kapital in „unternehmerfreundliche“ (also Ausbeutung tolerierende) Länder abzuziehen. Das gilt besonders für Geldkapital, das mit wenigen Mausklicken elektronisch um den Globus geschickt und der staatlichen Kontrolle entzogen werden kann.

Es gibt ja Großkonzerne, deren Umsatz größer ist als das Bruttosozialprodukt kleinerer Staaten. Wichtige internationale Institutionen stehen dabei auf der Seite des Kapitals. Es geht also, um Walter Eucken (1891–1950) zu zitieren, einen der Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, nicht darum 
„die sogenannten Missbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern die wirtschaftliche Macht selbst.“ (6, S. 172).

Idealistische Sozialisten glaubten einst, sie könnten dieser kapitalistischen Armutsfalle durch ein kommunistisches Staatssystem entgehen. Doch entstanden sind dann „staatskapitalistische“ Diktaturen, manchmal verharmlosend „Volksdemokratien“ genannt. Diese arbeiteten unwirtschaftlicher, aber nicht weniger ausbeuterisch. Dazu sind sie unterdrückerischer als die „privatkapitalistische“ Wirtschaft.

Bisher ist noch kaum ein sozialistischer oder kommunistischer Staat der Welt auf demokratischem Wege entstanden, und die Regierenden solcher Staaten konnten ihre Macht nur mit brutaler Zwangsherrschaft behaupten. Auch für Kolonialvölker hatten Sozialismus oder Kommunismus wenig Gutes zu bieten. Deutlich zeigt sich, dass beide Staats- beziehungsweise Wirtschaftsformen – „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ – einer gemeinsamen, unethischen Wurzel entsprungen sind: dem Materialismus. (Vgl. „Die Intelligenz tickt links“ unter „Wirtschaft und Soziales“).

Wirtschaftliche oder politische Macht ohne (religiöse) Ethik führt ins Verderben, wie Alexander Solschenizyn treffend herausstellte: 
„Dass die Macht Gift ist, ist seit Jahrhunderten bekannt […] Aber es ist für einen Menschen, der an etwas Höheres glaubt und sich darum seiner Begrenztheit bewusst ist, die Macht noch nicht tödlich. Für Menschen ohne höhere Sphäre ist die Macht wie Leichengift. Für sie gibt es bei Ansteckung keine Rettung.“ (15, S. 148).

Auch die in politischen Sonntagsreden beliebte Verharmlosung des Kapitalismus als „Marktwirtschaft“, „freie Marktwirtschaft“, oder gar als Ausdruck der „Freiheit“ ist nicht haltbar. Auch die Sklavenhalter von einst waren Kapitalisten und plädierten für eine freie Wirtschaft, wenn sie ihnen nützte. Denn 
„die totale Freiheit des Marktes ist gleichbedeutend mit Unterdrückung, Ausbeutung und Tod.“ (17, S. 153).

Heute arbeiten in scheindemokratischen kapitalistischen Entwicklungs- und Schwellenländern Hunderttausende unter Bedingungen, die sich von einer Sklavenhaltung kaum unterscheiden.

Die persönliche Freiheit des Menschen musste noch immer vom Staat durchgesetzt werden; denn fundamentale Menschenrechte stehen der kapitalistischen Ausbeutung ebenso im Wege wie der kommunistischen Zwangsherrschaft!

Schon Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) schrieb im „Contract sozial“ (Sozialvertrag): 
„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“

Raub und Plünderung – am Beispiel Bangladesch

Mit der Industrialisierung verstärkte sich die Kapitalakkumulation und damit die Möglichkeit, wirtschaftliche und militärische Macht gegen Konkurrenten, vor allem aber gegen Kolonialvölker einzusetzen. Es ging nun um die staatlich gelenkte Erschließung der Ressourcen in aller Welt.

Die indigenen Völker mussten ihre Rohstoffe kostenlos abgeben, sogar bei deren Erschließung helfen. Portugiesen, Spanier, Niederländer, Engländer, Franzosen, Russen, Belgier, Deutsche, Italiener, US-Amerikaner wetteiferten um Kolonialbesitz und damit um Zugang zu Rohstoffquellen und Absatzmärkten. Die Rechte der Einheimischen interessierten nicht, und es spielte keine Rolle, wenn ein Kolonialland heruntergewirtschaftet wurde.

So kam der Reichtum der Industrieländer dadurch zustande, dass Kolonialvölker Rohstoffe billig liefern und Industrieprodukte teuer kaufen mussten. Für diesen einseitigen Handel wurden ganze blühende Volkswirtschaften zerstört, wie das Beispiel des geplünderten Bengalen zeigt: 
Bengalen (einst „Golden Bengale“ oder „das Paradies der Völker“ genannt, heute als Bangladesch eines der ärmsten Länder) war eine der reichsten Provinzen Indiens. Der amerikanische Wissenschaftler Noam Chomsky beschreibt in seinem Buch „Wirtschaft und Gewalt“ (dtv, München, 1995), dass das Textilzentrum von Dacca im Jahr 1741 (die Schlacht von Plassey, die England die Herrschaft über Indien sicherte, war 1757) ausgedehnt, dichtbesiedelt und reich wie die City von London war. Bis 1840 aber war, „wie Sir Charles Trevelyan vor dem Sonderausschuss des britischen Oberhauses bezeugte, die Einwohnerzahl von 150.000 auf 30.000 gesunken und ‚der Dschungel und die Malaria breiteten sich rasch aus. […] Dacca, das indische Manchester, ist von einer blühenden zu einer kleinen und verarmten Stadt geworden‘. […] Bengalen war für seine feine Baumwolle bekannt, die heute nicht mehr angebaut wird, sowie für die außerordentliche Qualität seiner Textilien. Nach der Übernahme durch Großbritannien erwarben die britischen Händler ‚mit allen erdenklichen Schurkereien […] das Tuch von den Webern zu einem Bruchteil seines Wertes‘, schrieb der englische Kaufmann William Bolts 1772. ‚Die Methoden zur Unterdrückung der armen Weber sind zahlreich und vielfältig. […] Geldstrafen, Prügel, Einkerkerung, Erzwingung von Schuldscheinen usw. […] Dass in Bengalen der Handel darniederliegt, die Gewinne zurückgehen und der ganze Zustand so erbärmlich ist, liegt an der Unterdrückung und den Handelsmonopolen‘, die Bengalen von den Engländern aufgezwungen wurden.“
(5, S. 39 f.). 
Dass es in anderen Kolonien, zum Beispiel in Belgisch-Kongo, noch schlimmer zuging, sei nur am Rande erwähnt[III].

Neue Ausbeutung ohne militärische Gewalt

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die politische Lage und die militärischen Machtverhältnisse grundlegend verändert. Fast alle Kolonien wurden selbständig, infolge des Verlustes der Kolonialherren an Ansehen und militärischer Macht. Alle Versuche, die Kolonien mit militärischer Gewalt zu halten, scheiterten.

Eine gerechte „Neue Weltordnung“ unter der Leitung der UN war der Plan. Folgt man Winston Churchill (1874–1965), so sollte diese Neue Weltordnung nahtlos an die gewaltbereite und inhumane koloniale Vergangenheit anschließen und den Einfluss der alten Kolonialländer konservieren. (Siehe Kasten „Ein Schleier der Täuschung über Churchills Empfehlungen“). 

„Ein Schleier der Täuschung über Churchills Empfehlungen“ 
„Als nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Weltordnung errichtet wurde, formulierte Winston Churchill die Lehren, die bei ihrer Durchsetzung zu beherzigen wären…die Welt sollte von den saturierten Nationen regiert werden, die nicht mehr begehren, als sie bereits besitzen. Läge die Regierung der Welt in den Händen hungriger Nationen, gäbe es fortlaufend Gefahr. Aber von uns hätte keiner irgendeinen Grund, mehr besitzen zu wollen. Dergestalt könnte der Friede von Völkern bewahrt werden, die auf ihre Weise leben und nicht ehrgeizig sind. Wir könnten uns verhalten wie reiche Männer, die auf ihrem eigenen Grund und Boden in Frieden leben.“ 
Herrschaft auszuüben ist nicht nur das Recht der Reichen, sondern auch ihre Pflicht.  Indes sind zwei fehlende Anmerkungen hinzuzufügen. Erstens mangelt es den reichen Männern keineswegs an Ehrgeiz. Ständig gibt es neue Gelegenheiten, sich zu bereichern und andere zu beherrschen und das Wirtschaftssystem macht es leider unumgänglich, diese Gelegenheiten wahrzunehmen, denn wer zu spät kommt, wird vom Leben bestraft. Zweitens dient die Vorstellung, „Nationen“ oder „Völker“ würden als Akteure in der internationalen Arena auftreten, der üblichen ideologischen Drapierung, hinter der sich die Tatsache verbirgt, dass es innerhalb der reichen wie auch der hungrigen Nationen radikale Unterschiede hinsichtlich der Verteilung von Macht und Privilegien gibt. Zieht man der Schleier der Täuschung von Churchills Empfehlungen, so lauten sich schlicht, dass die reichen Männer der reichen Gesellschaften die Welt regieren, untereinander um einen größeren Anteil an Macht und Reichtum konkurrieren und gnadenlos alle unterdrücken sollen, die ihnen im Wege stehen. Unterstützung erhalten sie von den reichen Männern der „hungrigen Nationen“, die in diesem Spiel ihren Einsatz machen sollen. Die anderen dienen und leiden. 
Das sind alles Binsenweisheiten. Vor über 200 Jahren hat Adam Smith, der häufig missverstandene Held des gegenwärtigen Triumphzuges, beschrieben, dass die Reichen dem „abscheulichen Wahlspruch der Herrschenden“ folgen: „Alles für uns und nichts für die anderen.“ Wie selbstverständlich benutzen sie die Staatsmacht, um ihre Ziele zu erreichen.“       Noam Chomski (5, S. 91 f.).

Geschickte Neo-Kolonialisten fanden ein neues Ausbeutungssystem. Dieses funktioniert weitgehend ohne den Einsatz militärischer Gewalt von außen. Unterentwickelten Ländern werden mit Hilfe der Weltbank „Kredite zum Aufbau des Landes“ geboten, die sie mit dem verlangten Zins- und Zinseszins oft nicht tilgen können; schon gar nicht, wenn die Rohstoffpreise nur langsam steigen oder gar sinken, während die Importwaren wie Erdöl oder Industrieprodukte laufend teurer werden. So werden Entwicklungsländer in der Zinsfalle gefangen und sind dann abhängig.

Korrupte Eliten dieser Entwicklungsländer lassen sich bestechen. Politischer Druck und Waffenlieferungen sorgen dafür, dass nur solche Regime am Ruder bleiben, die den Regierenden der Industrieländer – in Ost und West – genehm sind. Ein Politiker eines Entwicklungslandes, der bei der Ausbeutung seiner Heimat nicht mitspielen will, wird dann zum Beispiel als „Kommunist“ diffamiert oder zur „Achse des Bösen“ gezählt. Er kann froh sein, wenn er nicht ermordet wird[iv].

Wer dieses böse Spiel – das vor nichts zurückschreckt – aus der Sicht eines Eingeweihten, also eines selbst Beteiligten, nachlesen möchte, dem seien die „Bekenntnisse eines Economic Hit Man“ (13), einem Bestseller von John Perkins (geb. 1945) empfohlen. Hier ist zu erfahren, wie die Turbo-Kapitalisten vorgehen: mit einem der wirkungsvollsten Systeme aller Zeiten zur Ausplünderung von Menschen und Natur.

Neuerdings hat der Westen Konkurrenz bekommen durch die aufstrebenden neuen Weltmächte – zum Beispiel China, Indien, Brasilien –, die sich am Wettlauf um die Sicherung der Ressourcen beteiligen. Besonders China ist hier weltweit aktiv, z. B. mit der „Neuen Seidenstraße“ und Investitionen in Afrika.
Ob dadurch der Umgang mit den Entwicklungsländern als Rohstofflieferanten humaner wird?

Eine kapitalistische Weltverschwörung?

Wie in einem kapitalistischen System nicht anders zu erwarten, ist die Kluft zwischen Arm und Reich in unserer Zeit in unerträglicher Weise gewachsen. Sie nimmt weiter zu, sowohl zwischen den Nationen, als auch innerhalb der einzelnen Staaten – selbst in den Industrieländern.

Dazu Josef Stiglitz (geb. 1943), Nobelpreisträger, Globalisierungskritiker und ehemaliger Chefökonom der Weltbank, der diese Institution aus Protest gegen deren Politik verließ: 
„Eine wachsende Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen hat eine zunehmende Zahl von Menschen in der Dritten Welt in bittere Armut gestürzt, mit weniger als 1 Dollar pro Tag zum Leben. Trotz wiederholter Versprechungen, die Armut zu reduzieren, die in der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht wurden, ist die tatsächliche Zahl der Menschen, die in Armut leben, um fast 100 Millionen gestiegen. Dies geschah in der selben Zeit, als das gesamte Welteinkommen tatsächlich um 2,5 Prozent jährlich stieg.“ (11, S. 26).

Die Zustände in den USA mit ihrer „Plutonomie“ (Herrschaft der Reichen) prangert Micheal Moore in seinem Film von 2009 an: „Kapitalismus – eine Liebesgeschichte“.

Oberflächlich betrachtet wirkt der weltweite Kapitalismus wie eine von steuernder Hand inszenierte Weltverschwörung. Entsprechende Verschwörungstheorien sind dann auch populär.

Ich persönlich glaube nicht, dass sich eine internationale Verbrecherbande von Industriellen, Finanzhaien, Mafiabossen und Politikern – über alle ethnischen, geographischen, politischen und religiösen Grenzen hinweg – verabredet hat, die Welt unter Beihilfe der großen, internationalen Institutionen unter ihre Gewalt zu zwingen. So einfach laufen historische Ereignisse nicht ab. Die Manager tun ja nur das, was die meisten Menschen gerne möchten: möglichst viel Geld verdienen!

Dagegen bin ich überzeugt, dass unsere kapitalistische Marktwirtschaft mit grundlegenden Mängeln behaftet ist. Zu diesen systemischen Fehlern gehören das Zinses-Zins-System (das alle Hochreligionen verbieten) und das Fehlen einer Wirtschaftsethik, wie auch der Mangel an Regulierungen für Börsenspekulationen usw. In einer globalisierten Welt sinkt der Einfluss der Nationalstaaten, die sich sogar gegeneinander ausspielen lassen müssen. Der Einfluss überstaatlicher, nicht demokratisch legitimierter Institutionen nimmt zu.

So wird es Übelwollenden leicht gemacht, sich mit schändlichen Methoden zu bereichern, die wie organisierte Kriminalität erscheinen. Selbst gutwollende Führungskräfte sehen sich geradezu gezwungen, „mit den Wölfen zu heulen“, also sich mit ihrer Firma auf einen unethischen Konkurrenzkampf einzulassen, der oft genug auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen wird. Ethische Maximen gelten in der heutigen, globalisierten Wirtschaft als „Wettbewerbsnachteile“, die sich keine progressive Firma leisten kann!

„Das Ende der reinen Politik“ 
„Denn Kapitalismus in des Wortes wahrer Bedeutung ist nicht, wie man Schwachköpfen einpaukt, die Ansammlung von Reichtum bei wenigen oder die Ausnutzung der Armen durch die Reichen oder die Trennung von Unternehmen und Arbeit. Das sind verwaschene Ideen, die aus dem Bauch kommen. Es gibt nur eine gültige Definition von Kapitalismus: Kapitalismus ist die Übernahme der Regierung durch die Hochfinanz. Er ist zugleich immer das Ende der reinen Politik. 
Superreiche und Bettelarme hat es stets gegeben. Das kann an der Charakterschwäche der Menschheit liegen, an mangelndem Rechtsempfinden, eventuell auch an zu rapidem Gefälle der Intelligenz. Den Reichen „Kapitalismus“ vorzuwerfen, ist der landläufige Irrtum. Reichtum, der in Form von Brillanten im Safe liegt, ist harmlos, wenn auch vielleicht verächtlich. Ist aber der Superreichtum im Sozialprodukt verankert, das heißt, ist das Volk in die Zwangslage manövriert worden, für den Superreichtum in einem Circulus vitiosus zu arbeiten, so ist das Stadium erreicht, in dem der Superreichtum aus Selbsterhaltungstrieb die Staatssouveränität selbst verkörpern und das Regieren übernehmen muss, um die Politik mit seinen Interessen gleichzuschalten. Dann werden Kabinette zu Schattenkabinetten und die Wirtschaftspolitik zur alleinigen Politik.“                          Joachim Fernau (8, S. 186).

Kann es so weitergehen?

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es Widerstand gegen den neuzeitlichen Kapitalismus.

Im 19. Jahrhundert waren es die grundlegenden Schriften der Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, die auf unerträgliche Zustände aufmerksam machten. Dabei ging es vor allem um die Ausbeutung der Arbeiterschaft in den Industrieländern. Politische Parteien und Gewerkschaften entstanden, die sich dieser Problematik annahmen; in dafür günstigen Zeiten mit Erfolg.

Die Unterdrückung oder gar Ausrottung der indigenen Völker in den Kolonien wurde vergleichsweise weniger wahrgenommen. Schließlich profitierten ja die meisten Bewohner der entwickelten Länder – mehr oder weniger – vom Kolonialismus.

Seit einigen Jahrzehnten wirkt sich nun die Globalisierung auch auf die Industrieländer aus, insbesondere auf deren Arbeitsbedingungen. Einst gut bezahlte Jobs geraten unter Druck, und immer mehr Arbeitnehmer vermissen einen sicheren, ordentlich bezahlten Arbeitsplatz, oder sie fühlen sich als Leiharbeiter oder im Praktikum ausgenutzt.

Die Unternehmer verweisen auf den steigenden Konkurrenzdruck. Denn die „Verfolgerstaaten“, die aufsteigenden Schwellenländer, sind auf vielen Gebieten wettbewerbsfähig geworden und setzen die alten Industrieländer, die „Abschiedsgesellschaften“, zunehmend unter Druck. („Der Globalisierungsschwindel“, unter „Wirtschaft und Soziales“).

Diese unerfreulichen Zustände liefern reichlich Material für kapitalismuskritische Autoren und NGOs (Non Government Organisations = Nicht staatliche Organisationen), die mit teilweise heftigen Kritiken an der derzeitigen Weltwirtschaft hervortreten. So schrieb Jean Ziegler, eine der wenigen politisch unabhängigen und moralischen Autoritäten unserer Zeit: 
„Die mörderische Ordnung der Welt muss umgestürzt werden. Eine Horde wild gewordener Börsentrader, Spekulanten und Finanzbanditen hat eine Welt der Ungleichheit und des Schreckens errichtet. Denen müssen wir das Handwerk legen.“ (17, S. 134).

„Regierungen handeln auf der Bühne der Ökonomie“ 
„Das unser Leben de facto bestimmende Herrschaftssystem, in dessen Gewalt wir mehr und mehr geraten, beherrscht uns zwar nicht de jure, es legt aber die Eckdaten fest, von denen dann auch die politische Führung ausgehen muss. Das gilt auch für die Regelungen, wenn nicht gar für Gesetze, durch welche die wahren Schaltstellen der Macht, die multinationalen Konzerne und die Hochfinanz, dem Zugriff staatlicher Instanzen und überhaupt jeder effektiven Kontrolle entzogen werden; in Wahrheit sind sie es, die die Staatsmacht unter Druck setzen und kontrollieren. Die Staatsmacht wiederum ist in die Macht der einzelnen Staaten aufgesplittert. Eine Aufsplitterung oder Begrenzung, die für die privatwirtschaftlichen Machtgruppen ebenso bedeutungslos ist wie Staatsgrenzen. 
Wie immer es auch um die Macht einer Regierung, ihren Handlungsspielraum und ihre Fähigkeit, Verantwortung zu tragen, bestellt sein mag – das Regierungshandeln vollzieht sich heutzutage auf der Bühne der Ökonomie, der Wechselgeschäfte und der Produktionsstandorte. Diese Faktoren bestimmen die Politik einer Regierung, fallen jedoch nicht in deren Ressort. Sie hängen nicht mehr von der Regierung ab, wohl aber diese von ihnen.            
          Viviane Forrester (9, S. 152 f.).

Hat der Kapitalismus abgewirtschaftet?

Kapitalistische Wirtschaftsformen haben sich über die ganze Welt ausgebreitet, das kommunistische China eingeschlossen. Zu keiner historischen Zeit konnte die Wirtschaft mit Wachstumsraten aufwarten wie in den letzten zwei Jahrhunderten. 
„Zwischen 1850 und 1960 wuchs die Wirtschaft Westeuropas etwa vierzig- bis fünfzigmal schneller als im Durchschnitt der 600 Jahre zuvor.“ (6, S. 17). 
Optimisten sehen in dieser Entwicklung einen über Jahrhunderte anhaltenden Trend, der sich trotz vorübergehender Einbrüche weiter fortsetzen wird. Demnach wird es auch in Zukunft allen Menschen immer besser gehen. Diese Triumphe werden besonders dem Kapitalismus zugeschrieben; der entscheidende Beitrag der naturwissenschaftlich-technischen Innovationen wird stark unterbewertet[v]. Der Sieg des Kapitalismus, der fast jeden Winkel der Erde erreicht hat, scheint daher total. Eine einmalige, kaum zu überbietende Erfolgsgeschichte!?

Doch nicht zu bestreiten ist, dass unser derzeitiges Wirtschaftssystem ohne wesentliche Änderungen nicht zukunftsfähig ist. Es geht nicht nur um ein krankes Finanzsystem mit wild gewordenen Spekulanten, die Überschuldung der meisten Staaten, oder um eine Marktwirtschaft, die Menschen rücksichtslos ausbeutet; es geht vor allem um grundlegende Fragen der Nachhaltigkeit.

Denn in Firmenbilanzen finden sich zwar Abschreibungen für Gebäude, Maschinen, Anlagen, aber die Natur spielt keine Rolle. Diese wird weiterhin als beliebig nutzbar und unendlich regenerationsfähig betrachtet. Die Natur hat Rohstoffe in unbegrenztem Maße zu liefern und Abfälle und Abgase in beliebigen Mengen zu schlucken.

Notwendig ist eine „neue industrielle Revolution“, die Abkoppelung der ökonomischen Wertschöpfung (Wirtschaftswachstum) vom Naturverbrauch. Dazu gehören umweltfreundliche Technologien und die Umstellung der Energiegewinnung auf erneuerbare Energien (3, S. 59). Vieles wäre bei entschlossenem Handeln möglich (16)!

„Wir brauchen globale ethische Rahmenbedingungen!“ 
„Die Globalisierung des wirtschaftlichen Handelns wird nur dann zum allgemeinen und nachhaltigen Wohlstand und Vorteil aller Völker und ihrer Volkswirtschaften führen, wenn sie auf die beständige Kooperationsbereitschaft und wertorientierte Kooperationsfähigkeit aller Beteiligten und Betroffenen bauen kann. Das ist eine der grundlegenden Lehren der weltweiten Krise der Finanz- und Geldmärkte. 
Die Kooperation aller Beteiligten und Betroffenen wird nur dann verlässlich gelingen, wenn das Streben aller nach Realisierung des legitimen Eigeninteresses und nach gesellschaftlicher Wohlfahrt eingebettet ist in globale ethische Rahmenbedingungen, die allgemein als gerecht und fair akzeptiert werden. Eine solche Verständigung über global akzeptierte Normen wirtschaftlichen Handelns und Entscheidens, über ein Ethos des Wirtschaftens, existiert erst in ersten Anfängen.“                       
Hans Küng (11, S. 23).

Bisher gibt es nur wenige, oft unzureichende staatliche Regeln, die den Turbo-Kapitalismus zähmen und die Naturzerstörung begrenzen. Wird nicht sehr bald und sehr wirksam eingegriffen, zerstören rücksichtslose Kapitalisten die physischen Grundlagen ihrer und unserer Existenz.

Hier wird der grundlegende Konstruktionsfehler der kapitalistischen Misswirtschaft deutlich: Der Kapitalismus ist von seinem Ansatz her ein unethisches System, das sich durch Gesetze und Regeln allenfalls etwas zähmen lässt. Findige Spekulanten werden aber immer wieder Lücken in den staatlichen Vorgaben finden und diese Lücken schamlos nutzen.

Bisher war die kapitalistische Marktwirtschaft immer dann lernfähig, wenn es galt, den Profit zu steigern. Wird sie es in Zukunft schaffen, ethische Maximen einzubauen und naturverträgliches Handeln höher einzustufen als die Gewinnmaximierung?

Zukunftsfähig kann nur ein naturgemäßes Wirtschaftssystem auf ethischer Grundlage sein, für das konkrete Vorbilder fehlen, und das bisher noch nicht einmal ansatzweise in Sicht ist.

Höchste Zeit, dass wir eine naturgemäße, moralisch vertretbare, ethische Wirtschaftsordnung finden!

Der amerikanische Soziologe und Kapitalismuskritiker Immanuel Maurice Wallerstein (geb. 1930) glaubt, dass das derzeitige kapitalistische System nicht überleben kann. Die Lage für die Herrscher dieser Welt werde zunehmend chaotischer und unkontrollierbarer. Wörtlich meinte er: 
„Wir können sicher sein, dass wir in 30 Jahren nicht mehr in einem kapitalistischen Weltsystem leben werden.“ 
Auf die Frage, welches System den Kapitalismus ablösen wird, hat er keine Antwort. 
„Es kann ein besseres oder schlechteres System sein, alle Möglichkeiten sind offen.“ (20).

Über die Massenmedien und das Internet, das sich nur schwer zensieren lässt, erfahren die Menschen zu viel über Naturzerstörung, Korruption, Überschuldung der Staaten, Verstöße gegen Menschenrechte, schlechte Politik, unethische Handlungsweisen der Verantwortlichen. Man muss daher damit rechnen, dass sich viele, sehr viele ein unmenschliches System der Ausbeutung und Unterdrückung nicht beliebig lange gefallen lassen[v]. Auch drohen ernste Umweltkatastrophen.

Das prophezeite Ende des Kapitalismus wird weder das Ende der Welt noch das Ende der Wirtschaft sein. Auch nach – vielleicht sogar revolutionären – Umwälzungen werden die Menschen weiter leben, sich ernähren, kleiden, wohnen, arbeiten, Geld verdienen usw.

Darf man darauf hoffen, dass die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik die Fehlentwicklungen erkennen und die Kraft finden, gegenzusteuern?

Schaffen es die Staaten, wieder „Herr im eigenen Haus“ zu sein und sich nicht länger ihre Politik von Lobbyisten diktieren zu lassen?

Wird eine dringend nötige „Wirtschaftsethik“ (10) zur weltweiten Leitlinie werden?

Oder ist das System der Bereicherung für eine kleine, sehr einflussreiche Elite so verlockend, dass diese den Turbo-Kapitalismus zum Exzess treiben wird und damit ihr eigenes – nicht nur finanzielles – Ende riskiert?

Eines ist sicher: Frieden ohne Gerechtigkeit kann es dauerhaft nicht geben! 

Lesen Sie dazu auch „Welches Gesellschaftssystem wollen wir?„. 

Literatur: 
(1) Aubauer Hans Peter u. a., Kapitalismus gezähmt?, Peter Lang, Frankfurt a. M. 2010. 
(2) Biermann Werner/Klönne Arno, Kapital-Verbrechen, PapyRossa, Köln 2005.
(3) Brenner Robert P. u. a., Kapitalismus am Ende?, VSA, Hamburg 2009. 
(4) Chang Ha-Joon, 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen, Bertelsmann, München 2010.
(5) Chomsky Noam, Wirtschaft und Gewalt, DTV, München 1995.
(6) Daniels Arne/Schmitz Stefan, Die Geschichte des Kapitalismus, Heyne, München 2006. 
(7) Der Spiegel, 49/2010, Seite 22. 
(8) Fernau Joachim, Halleluja, Herbig, München 1977.
(9) Forrester Viviane, Der Terror der Ökonomie, Goldmann, München 1998.
(10) Küng Hans, Anständig wirtschaften, Piper, München 2010.
(11) Küng Hans u. a., Manifest globales Wirtschaftsethos, DTV, München 2010. 
(12) Mies Maria, Krieg ohne Grenzen, PapyRossa, Köln 2004.
(13) Perkins John, Bekenntnisse eines Economic Hit Man, Goldmann, München 2007.
(14) Senf Bernd, Die blinden Flecken der Ökonomie, DTV, München 2001. 
(15) Solschenizyn Alexander, Der Archipel Gulag, Band I, Bern 1976.
(16) Weizsäcker Ernst Ulrich u. a., Faktor vier, Droemer Knaur, München 1995.
(17) Ziegler Jean, Wie kommt der Hunger in die Welt?, Bertelsmann, München 2000.
www …
Kapitalismuskritik:
http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismuskritik
www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29687/1.html. 
Altantischer Dreieckshandel:
http://de.wikipedia.org/wiki/Atlantischer_Dreieckshandel
http://www.historischer-arbeitskreis-ahrensburg.de/Der_Dreickshandel.htm
http://www.textundtext.de/2008/10/die-sklaventransporter.

Endnoten:
[i] Ein typisches Beispiel hierzu wäre die Aufnahme der PIIGS-Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien) in den Euro-Raum, vor der Ökonomen dringend gewarnt haben (6). Auch sollte man nicht vergessen, dass Deutschland als erstes Land den Stabilitätspakt aufgeweicht hat! Nun ist dadurch der Euro in Gefahr geraten.
[ii] Im Jahre 1807 wurde der Sklavenhandel (noch nicht die Sklaverei) in England verboten.
[iii] In Belgisch-Kongo, der Kolonie im persönlichen Besitz des Königs Leopold I.; „Während des Kautschuk-Booms, der … von den 1880er bis zu den 1920er Jahren rund vier Jahrzehnte andauerte, war die dortige Bevölkerung gezwungen, um jeden Preis den Stoff für den Export zu sammeln. Dabei waren die Bevölkerungsverluste durch Misshandlungen, Folterungen, Hunger und Krankheit so hoch, dass jede zehn Kilogramm Kautschuk, die exportiert wurden, ein Mensch mit seinem Leben  bezahlen musste. So schockierend wenig war damals im Kongo ein Menschenleben wert, dass am Ende dieser vier Jahrzehnte die Bevölkerung um 70% geschrumpft war.“ (Peter Frankopan. „Zwischen Erde und Himmel“, Seite 642). 
[iv] Jean Ziegler erwähnt Thomas Sankara, den Staatchef von Burkina Faso. Ihm war das Wohlergehen seines Volkes wichtiger als die Interessen der Kapitalisten. Dafür wurde er 1987 ermordet. (17, S. 118 f.). Ein weiteres Beispiel bietet Patrice Lumumba (1925-1961), Präsident des Kongo, der ebenfalls ermordet wurde.
[v] Wie heißt es so typisch: „Der Techniker ist das Kamel, auf dem der Kaufmann zum Erfolg reitet.“
[vi] Allen Verantwortlichen ist dringend anzuraten, die Geschichte der Französischen Revolution zu lesen. Auch die von Politikern angefeindete Schrift „Der kommende Aufstand“, die man im Netz findet, ist ein ernst zu nehmendes Warnsignal! (http://media.de.indymedia.org/media/2010/07//286489.pdf).