(Veröffentlicht in GralsWelt 34/2004)
„Wenn man also beim Gesellschaftsvertrag von allem absieht, was nicht zu seinem Wesen gehört, wird man finden, dass er sich auf folgendes beschränkt: Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“ Jean-Jacques Rousseau: „Vom Gesellschafts-vertrag.“ (4, S. 312).
STAAT UND GESELLSCHAFT
Die geschichtliche Entwicklung verläuft nicht selten in Wellen, und was heute als gut gilt, wird morgen verworfen, um dann nach längerer Zeit wieder aufgegriffen zu werden. So veränderten sich z.B. auch die Ansichten über die beste Regierungsform.
Seit der Antike gab es über lange Jahrhunderte nur wenig Zweifel über die richtige Staatsform: Eine Gemeinschaft musste vom einen Kaiser, König, Herzog, Graf regiert werden, also von einem monarchischen (statt autokratischen) Fürsten. Andere Regierungsarten waren schon im Altertum gescheitert.
Die 510 v.Chr. von Kleisthenes gegründete Demokratie der Athener überstand, durch Einführung der Oligarchie (411 v.Chr.) und die Herrschaft der 30 Tyrannen (404-403 v.Chr.) unterbrochen, keine zwei Jahrhunderte. Sie hatte eine berühmte Blüte, die Ära des Perikles (500-429 v.Chr.), eines großen Demagogen, der das wankelmütige Wahlvolk – meist Analphabeten – bestens zu manipulieren wusste.
Mit vom Delischen (oder Attischen) Seebund zweckentfremdeten Geldern entstanden unter des Perikles Ägide prachtvolle Bauten, und die Athener lebten in staatlich subventioniertem Luxus, auf dem Rücken von Sklaven, Fremden und ihren Verbündeten, die „die Zeche bezahlen“ mussten. Wer Athen Konkurrenz machte (wie Ägina), oder die von den Athenern zu ihren Gunsten missbrauchte Verteidigungsgemeinschaft des Delischen Seebundes verlassen wollte (wie Samos) wurde erobert, die Stadt geschleift und die Flotte beschlagnahmt.
Diese ebenso streitlustigen wie wankelmütigen Athener riskierten, mitten im Krieg gegen Sparta, zusätzlich noch leichtfertige Raubzüge; so eine katastrophal gescheiterte Sizilianische Expedition (414-413 v.Chr.). Sie zerfleischten sich im Parteienhader und ruinierten ihren Stadt-Staat im Bruderkrieg mit Sparta (Peleponesischer Krieg, 431-404 v.Chr.).
Die stolzen Griechen, die philosophische und künstlerische Elite Europas, glitten in Athen in die hässlichsten Seiten der Demokratie ab, und im autokratischen Sparta scheiterte die einst unbesiegbar scheinende Militärmacht an ihrer eigenen Ungerechtigkeit und grausamen Härte.
So konnte geschehen, dass die Hochkultur Griechenland von den zivilisatorisch primitiveren Mazedoniern 337 v.Chr. unterworfen wurde.
Die Römische Republik, die 510 v. Chr. in Italien ein verhasstes Königtum ablöste, bestand länger und war erfolgreicher als die griechische Demokratie. Allerdings erschütterten andauernde Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebejern, sowie Sklavenkriege (z.B. 136-132 v. Chr.) die Republik. Der große Aufstand von Gladiatoren und Sklaven unter der Führung des Spartakus (73-71 v. Chr.) brachte das Reich sogar an den Rand einer Niederlage. Nach der Zerstörung Karthagos (146 v. Chr. vgl. „Karthago – der erste kapitalistische Staat? ) kamen endlich dringende soziale Reformen, die jedoch durch den Widerstand der im Senat dominierenden Patrizier wieder verwässert wurden. Die Unzufriedenheit der Plebejer half populistischen Heerführern den einst hochangesehenen Senat zu kontrollieren.
Nach Caesars Ermordung (44 v. Chr.), und dem darauffolgenden Bürgerkrieg, wird Oktavian (63 v. Chr.-14 n. Chr., mit den Ehrentitel Augustus = der Erhabene) zum Alleinherrscher und Rom zum Kaiserreich. Unter den „Caesaren“ erreicht es seinen höchsten Glanz und seine größte Ausdehnung. Die Republik war gescheitert, nach vier Jahrhunderten erfolgreicher Expansion mit vielen Kriegen, gerechten und ungerechten.
DER IDEALE STAAT
Fast zu allen Zeiten suchten Philosophen nach dem idealen Staat: Platon (427-347 v. Chr.), Augustinus (354-430), Campanella (1568-1639), William Morris (1834-1896) uvam.
Die frühen Siedler in Nordamerika – durch religiöse Unduldsamkeit aus Europa vertrieben – wollten die Utopia des Thomas Morus (1478-1535) oder das Neu-Atlantis von Francis Bacon (1561-1626) in die Praxis umsetzen. In ihren neu gegründeten Gemeinden gab dann allerdings der religiöse Fanatismus den Ton an.
Im 17. und 18. Jahrhundert zeigten sich die Monarchen unfähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen. In Frankreich z.B., mit seinem absolutistischen Königtum, verarmte das reichste Land Europas durch glänzende Feste in Versailles und sinnlose Kriege am Rhein. Wertvolle Kolonien gingen durch Korruption und Dummheit verloren, die Flotte wurde vernachlässigt, und keiner sah die sich anbahnende Entscheidung, ob die Welt der Zukunft französisch oder englisch sprechen würde. Versäumnisse, die selbst ein Napoleon nicht mehr korrigieren konnte.
Auch England verlor seine wertvollste Besitzung in Übersee (Nordamerika) durch die engstirnige Sturheit seines Königs. (Vgl. „Kurz, knapp, kurios“ Seite 358 „Wie eine Preissenkung eine Revolution auslöste“).
Monarchistische Regierungsformen – oft reine Willkürherrschaft – hatten zu viele Schwächen gezeigt, die christliche Ethik hatte versagt, und die neuen Staatsideen der Philosophen der Aufklärung fanden zunehmende Beachtung.
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung basiert auf der Philosophie der Aufklärung, ebenso die Verfassungen der meisten modernen Staaten, oder die Charta der Vereinten Nationen.
Neben den für heutige Verfassungen grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien, wie Gewaltenteilung (Montesquieu, 1689-1755), bürgerliche Freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz usw., fand der von Rousseau (1712-1778) propagierte „Gesellschaftsvertrag“ Beachtung, mit der ernüchternden Feststellung:
„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ (6, S. 36).
Mit diesem neuen Staatsverständnis errangen auch soziale Forderungen Beachtung. Die politischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts waren vielfach von Konfrontationen zwischen Kapital und Arbeit geprägt. Dabei wurde in Industrieländern die anfängliche Übermacht der Kapitaleigner beschränkt und soziale Mindeststandards errungen, deren weltweite Durchsetzung in der Gegenwart eine der dringlichsten Aufgaben der UN wäre.
DER NEO-KAPITALISMUS
Im Kalten Krieg standen sich nicht nur zwei hochgerüstete Militärblöcke gegenüber, sondern vor allem zwei Ideologien: Genannt Kapitalismus und Sozialismus.
Der Sozialismus war die Hoffnung der Armen und Unterdrückten, die eine gerechtere, eine soziale Weltordnung erwarteten. Marx, Engels, Lenin wurden in der ganzen Welt gelesen, und sozialem Denken verpflichtete Parteien und Gruppen erzwangen – zumindest in westlich orientierten Industrieländern – einen gemäßigten Kapitalismus, ohne den brutalen Missbrauch der Arbeitnehmer, wie ihn das 18. und 19. Jahrhundert sah.
Jetzt aber, nach dem Zusammenbruch des Sozialistischen Blocks, bekommt im 21. Jahrhundert der „Turbo-Kapitalismus“ freie Bahn, der Kampf um Ressourcen und Absatzmärkte nimmt neue Formen an, der „Gesellschaftsvertrag“ ist so gut wie gekündigt, „die Freiheit, die unterdrückt“ ist auf dem Vormarsch.
In den GUS-Staaten (Nachfolger der zerfallenen UdSSR) ist die staatliche Gewalt in weiten Bereichen durch das organisierte Verbrechen verdrängt, und in Entwicklungsländern geht ohne Korruption fast nichts.
In den Industrieländern, die noch einigermaßen funktionierende Rechtsstaaten sind, zeigt sich immer deutlicher der Verfall guter Sitten: Weltkonzerne fälschen Bilanzen; angesehene Unternehmen beteiligen sich am illegalen Waffenhandel, sie umgehen Ausfuhrverbote, fördern Zigarettenschmuggel, hinterziehen Steuern. Politiker und Beamte werden käuflich und erpressbar. Die Grenze zwischen Wirtschaftskriminalität und organisiertem Verbrechen wird auf diese Weise gleitend; denn:
„Das organisierte Verbrechen ist das höchste Stadium des Kapitalismus selbst. Wo totalitär gewordene Warenrationalität und die neoliberale Verblendung wüten, sind das Gemeinwohl, der Staat, das Gesetz in höchster Gefahr. Die demokratische Gesellschaft wird ihrer Immunkräfte beraubt.“ (9, S. 267).
Staatliche Stellen klagen über leere Kassen, Schwarzarbeit, mangelnde Steuerehrlichkeit; aber sie wollen nicht sehen, dass das Geld, das ihnen für öffentliche Aufgaben fehlt, in zu viele dunkle Kanäle fließt, die dem allgemeinen Wohl nicht dienen.
Wer m. E. den Anblick einer Zukunft konfrontieren will, der wir uns beklagenswerter weise auch in Deutschland nähern, kann das am Beispiel des Stadtbildes von Palermo: Bei einem Gang durch die einst prachtvolle Innenstadt kann man geradezu fühlen, wie der „Krake“ (Mafia) die Stadt aussaugt und verkommen lässt. Diese „Krake“ lässt die Menschen zwar noch überleben, aber sie nimmt ihnen so viel, dass es zu Wohlstand, z.B. zur Instandhaltung oder Renovierung ihrer Häuser (die bei uns unter Denkmalschutz stünden) nicht reicht.
Unsere leeren Staatskassen ließen sich leichter füllen, würden unsere verantwortlichen Politiker und Beamten, anstatt zu jammern, dafür sorgen, dass Personen des organisierten Verbrechens sich nicht ungehindert und ungestraft bereichern können. Doch unsere Entscheidungsträger sind allem Anschein nach unbedarft, ahnungslos, blind, hilflos, unfähig, gekauft, erpresst oder haben Angst, fürchten vielleicht sogar um ihr Leben, und sehen allesamt der Renaissance eines brutalen Frühkapitalismus, der Aushöhlung des Rechtsstaates und der Ausbreitung des organisierten Verbrechens wie gelähmt zu?
Das oft als „Mafia“ bezeichnete, international organisierte Gangstertum, mit riesigen Gewinnen aus Drogen-, Waffen- und Frauenhandel, übt längst Einfluss auf Regierungen aus und ist weit kapitalkräftiger und logistisch besser organisiert als z.B. die gefürchtete El Qaida. Diese Tatsachen treten nur ausnahmsweise ins Licht der Öffentlichkeit. Wer darüber berichten will, kommt nur schwer an brauchbare Informationen und begibt sich in Lebensgefahr. Wäre der Bürgerschaft das volle Ausmaß der kriminellen Katastrophe bewusst, die auf uns zurollt, gäbe es die größten Demonstrationen aller Zeiten und keiner der schlafenden, ängstlichen oder korrupten Politiker würde wiedergewählt.
Übernationalen Institutionen und international tätigen Großkonzernen scheint diese unselige Entwicklung gelegen, denn sie propagieren eine Zukunft, in der demokratische Grundrechte, Rechtssicherheit, staatlicher Einfluss auf die Wirtschaft, Arbeitnehmerrechte, soziale und ökologische Standards, ausgehebelt werden können:
DIE GLOBALISIERUNG
Wie wir schon in „Globalisierung der Unmoral„, hier unter „Wirtschaft und Soziales“ sagten, werden mit der grenzenlosen Freiheit der Wirtschaft auch moralische Maximen und soziale Verantwortung auf der Strecke bleiben, denn:
„Zur immanenten Logik des Kapitalismus gehört seit jeher die Unterdrückung und Ausbeutung der Mehrheit der Menschen durch kleine, mächtige Gruppen. In Westeuropa (vom Osten unseres Kontinents ganz zu schweigen) vermischt sich die kapitalistische Gewalt immer deutlicher mit der kriminellen.“ (9, S. 266).
Der staatskapitalistische Ostblock mit seiner verlogenen Ideologie hat die Ausbeutung der Menschen so lange gesteigert, bis er zusammenbrach. An seine Stelle trat eine angeblich neo-liberale Wirtschaft nach westlichem Vorbild, welche die ehemals sozialistischen Nationen verbrechensbereiten Gruppierungen auslieferte, die sich rücksichtslos bereichern. (8, S. 105 f.).
Im Westen gibt es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks angeblich keine Alternative zu einer schrankenlosen Globalisierung, und ein rigoroser Privatkapitalismus ist auf bestem Wege, die Leidensfähigkeit der Menschen so lange zu erproben, bis Gegenkräfte eine Wende erzwingen: Religiöse, politische, ökonomische, ökologische, nationale, humane, soziale Kräfte; hoffentlich nicht Revolten, terroristische Aktionen oder gar Kriege. Denn ein Räuber-Kapitalismus, dem zur Durchsetzung seiner Ziele jedes Mittel Recht ist, wird sich nicht dauerhaft halten!
In der täglichen Berichterstattung wird die unsinnige neo-liberale Ideologie eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums mit Hilfe der – angeblich unaufhaltsamen – Globalisierung oft glorifiziert, und seltener auch von ihren Nachteilen gesprochen. Doch Globalisierung bedeutet mehr als freien Geld- und Warenverkehr: Sie bringt Entmachtung der Staaten, Aushebelung der Rechtssysteme, Abbau sozialer Verpflichtungen, und als (ungewollte?) Nebenwirkung die Begünstigung des organisierten Verbrechens, das zunehmenden Einfluss auf Politik und Justiz hat. (9, S. 209 f.).
Eine weitere Folge der Globalisierung ist ein Wettlauf um Investoren, besonders unter den Entwicklungsländern. Dabei haben die Länder mit den geringsten sozialen und ökologischen Anforderungen die größten „Chancen“.
Wenn Staaten – arme oder reiche – durch niedrigere Steuern und die Streichung sozialer und karitativer Verpflichtungen die Reichen anlocken und die Armen abschrecken wollen, wird der „Gesellschaftsvertrag“ Makulatur, und die (auch im deutschen Grundgesetz verankerte) Verantwortung von Staaten und Unternehmen für das Gemeinwohl aufgekündigt. Das wäre dann die von Freiwirtschafts-Fetischisten angebetete „totale Freiheit“, in der die Wirtschaft sich unbehindert entfalten kann, ohne Rücksicht auf die Menschen, denen sie dienen sollte. Der globale Privatkapitalismus wird damit zum Selbstzweck und geht dann dem Umschlag in Chaos entgegen.
Lesen Sie dazu auch „Der Globalisierungsschwindel“ und „Wo bleibt die Hoffnung für die Armen der Welt„, beide unter „Wirtschaft und Soziales“.
LITERATUR:
(1) Fernau, Joachim: „Caesar läßt grüßen“, Herbig, München 1971.
(2) Fernau, Joachim: „Rosen für Apoll“, Herbig, Berlin-Grunewald, 1965.
(3) Boxberger, Gerald/Klimenta, Harald: „Die zehn Globalisierungslügen“, DTV, München 1998.
(4) Oberndörfer, Dieter/Rosenzweig, Beate: „Klassische Staatsphilosophie“, C.H. Beck, München, 2000.
(5) Roth, Jürgen: „Schmutzige Hände – wie die westlichen Staaten mit der Drogenmafia kooperieren“, Bertelsmann, München 2000.
(6) Rousseau, Jean Jacques: „Der Gesellschaftsvertrag“, Reclam, Stuttgart, 1958.
(7) Thurow, Lester C.: „Die Zukunft des Kapitalismus“, Metropolitan, Düsseldorf/Berlin 2000.
(8) Walter, Joachim: „Der Traum aller Träume“, VMA, Wiesbaden 1990.
(9) Ziegler, Jean: „Die Barbaren kommen“, Bertelsmann, München 1998.
(10) http://www.roemischerepublik.de.