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Religionsgeschichte

Reise zum Schlangenfest

(Veröffentlicht in GralsWelt 62/2010)

Märchen, Sagen, Mythen, Fabeln ranken sich oft um Tiere. Diese dienen dann als Symbole, werden mit menschlichen Verhaltensweisen in Bezug gebracht, oder sollen als Wappentiere die Anliegen oder Tugenden der Wappenträger zum Ausdruck bringen. Jeder sieht z.B. im Löwen ein Symbol für einen Herrscher, kennt den Fuchs als schlau und durchtrieben, den Bären als gutmütigen, kräftigen Tölpel. Der Adler (Greif) gilt als Symbol für den Himmel, die Schlange u.a. für die Erde, für  die Unterwelt oder für Weisheit.

Für kein Tier gibt es so viele und so widersprüchliche Deutungen wie für die Schlange. In Naturreligionen ist sie Trägerin der Seelen Verstorbener. Beim Häuten legt sie ihre alte Haut ab und symbolisiert so Erneuerung, ewiges Leben, Wiedergeburt.

Bei Hindus, Buddhisten, Indianern ist die Schlange Hüterin der Weisheit; Ägypter, Griechen und Tibeter bilden sie als Uroboros ab, als die sich in den Schwanz beißende Schlange, einem Symbol für Ewigkeit. Im Mithraskult symbolisierte die sich um den Baum ringelnde Schlange den Lauf der Zeit; im Christentum ist sie ein Abbild des Satans. Diese Liste der Schlangensymbolik lässt sich fast beliebig fortsetzen…

Sind Schlangen etwas Besonderes?

Alte Völker hielten reale Schlangen sicher nicht für auffallend kluge, durch Weisheit hervorstechende Tiere. Doch bei Menschen aller Kontinente erlangten Schlangen außerordentliche mythologische Bedeutung, die mit einer in unserem Unterbewusstsein verankerten Schlangenfurcht erklärt wird:
„Beim Anblick von Schlangen reagieren wir meist sehr emotional: Sie versetzten uns nicht nur in Furcht, sondern sie erregen und fesseln uns auch so sehr, dass wir uns Geschichten über sie ausdenken.“ (6, S. 17).
Solche Emotionen, von Schlangen ausgelöst, waren vermutlich der Ursprung von Schlangenmythen und Schlangenverehrung, wie sie in vielfältiger Form auf allen Kontinenten anzutreffen sind. Manche Schlangenkulte haben sich bis in unsere Zeit erhalten, und selbst das Christentum – das in der Schlange ein Satanssymbol sieht – konnte das Eindringen heidnischer Schlangenkulte in christliche Rituale nicht verhindern. Einen solchen „christlichen“ Schlangenkult gibt es sogar noch heute in Mitteleuropa:

Der Schlangenkult von Cocullo

Auf der geographischen Breite von Rom liegt in den Abruzzen an einem Abhang das kleine, gepflegte Bergdorf Cocullo, das zwar kein Hotel und keine Übernachtungsmöglichkeiten besitzt, aber über eine eigene Autobahnausfahrt[i] leicht  erreichbar ist.

Hier findet jedes Jahr, am ersten Donnerstag im Mai, dem Tag des Dominikus Abate[ii] ein „Schlangenfest“ statt, dessen Ursprünge in etruskischer Zeit vermutet werden. Funde von Schlangenskulpturen geben zu der Annahme Anlass, dass es hier lange vor der Christianisierung Prozessionen gab, bei denen Schlangen als Überbringer der Bitten um Furchtbarkeit über die Felder getragen wurden. Also ein typisches „magisches“ Ritual, bei dem vermutlich die etruskische Fruchtbarkeitsgöttin Angizia um gute Ernten angefleht wurde. Das Leben war schwer in der kargen Abruzzen-Region, und Schlangen und Wölfe sind noch heute Symboltiere dieser rauen, abweisenden Landschaft.

In Cocullo vermischte sich der Jahrtausende alte Schlangenkult mit der Verehrung des Dominkus Abate, der vor Tausend Jahren der Bevölkerung half beim Kampf gegen Krankheiten, Unwetter, wilde Tiere, und der Überlieferung zufolge magische Kraft über die Schlangen besaß und von Schlangen Gebissene heilte.

Die Prozessionon der Serpari

Zum Tag des Dominikus kommen jedes Jahr Tausende angereist, teilweise von weit her, und der kleine Ort mit seinen verwinkelten Straßen ist total überfüllt.

Wie jedes katholische Fest beginnt der Rito dei Serpari, der Ritus der Schlangenfänger, mit einer Messe in der kleineren der beiden Ortskirchen, der winzigen Dominikus-Kirche, in der eine Figur und eine Reliquie des Heiligen aufbewahrt werden.

Danach wird die Statue des Dominikus auf den engen Kirchen-Vorplatz getragen. Nun kommen aus allen Richtungen die Schlangenfänger mit ihren in den Bergen gefangenen Schlangen, von denen Dutzende dem Heiligen um Hals und Schultern gehängt werden.

Dann folgt eine Prozession, in der – hinter einer Blaskapelle – die mit Schlangen behängte Statue des Dominikus durch die Felder getragen wird. Unter der vieltausendköpfigen Pilgerschar, die der Dominikusstatue folgt, befinden sich viele, die selbst Schlangen gefangen haben und diese nun in der Prozession mittragen.

Den Abschluss des in Europa einmaligen Schauspiels bildet am Abend eine Preisverleihung, z.B. für den, der die meisten Schlangen (manchmal über 100) gefangen hat. Am folgenden Tag werden die Schlangen in die Berge gebracht und frei gelassen.

Literatur:
(1) Egli, Hans: „Das Schlangensymbol“, Walter, Olten, 1982.
(2) Obst, Fritz Jürgen: „Mit gespaltener Zunge“, Herder, Freiburg, 1981.
(3) Paul-Stengel, Camilla: „Schlangenspuren – Reptilien in der Kulturgeschichte“, Ulrike Helmer, Königstein/Taunus, 1996.
(4) Stamer, Barbara/Zingsem, Vera: „Schlangenfrau und Chaosdrache“, Kreuz, Stuttgart, 2001.
(5) Uber, Heiner/Mondhe, Papu Pramod: „Weltschlangen – Schlangenwelten“, Fredeking & Thaler, München, 2002.
(6) Wilson, Edward O.: „Darwins Würfel“, Econ, München, 2000.
(7) http://www.heiligenlexikon.de/.
Endnoten:
[i] An der Autostrada A 25 Pescara-Rom.
[ii]In Cocullo wird Dominikus von Sora (951-1031) verehrt, der als Einsiedler in den Abruzzen lebte und Einsiedlergemeinschaften gründete. Er ist nicht zu verwechseln mit  dem  Gründer des Dominikaner-Ordens.