Kategorien
Religionsgeschichte

Eine neue Großreligion

(Veröffentlicht in GralsWelt 42/2007)

Voodoo und Co.

Verschiedene Religionen behaupten schnell zu wachsen, während andere – darunter das Christentum in Europa – sich mit Austritten und Verlust an Ansehen abfinden müssen. Die vielleicht am schnellsten wachsende Religion, die in einigen Ländern sogar dabei ist, das Christentum zurückzudrängen, ist bei uns kaum bekannt: Die Vermischung afrikanischer Religionen mit Katholizismus und indianischer Mythologie; manchmal noch mit islamischem, hinduistischem, buddhistischem und sonstigem Gedankengut: Diese „afro-amerikanischen Kulte“, werden, je nach der Region ihres Ursprunges, Voodoo , Santeria, Candomblé, Umbanda usw. genannt, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Sie breiten sich besonders in Mittel- und Südamerika, aber auch in Nordamerika und Afrika aus.

Eine Symbiose aus Christentum und Stammesreligion
Die vom 16. Jahrhundert an von (vorwiegend West-) Afrika nach Amerika verschleppten Sklaven brachten eigene religiöse Vorstellungen mit, von denen nur wenig bekannt ist. Wahrscheinlich glaubten sie an ein, über alle anderen Göttergestalten und Geistwesen erhabenes, „höchstes Wesen“:

„Diese höchste Gottheit…..galt als Schöpfer des Universums und alles Lebenden. Nach dem Schöpfungswerk, so eine verbreitete Vorstellung, hatte sie sich aus der Welt zurückgezogen, weshalb es auch keinen eigenen Kult für sie gegeben zu haben scheint. Die kultische Verehrung richtet sich vielmehr an eine Vielzahl von meist anthropomorph (menschenähnlich) vorgestellten Gottheiten, die dem erhabenen ‚höchsten‘ göttlichen Wesen untergeordnet waren.“ (7, S. 15).*)

Auf den Sklavenmärkten angekommen, wurden die deportierten Schwarzafrikaner in der Regel getauft, und dann ohne Rücksicht auf Herkunft, Muttersprache und Familienbande auf ihre Arbeitsstätten in Plantagen, Manufakturen, Bergwerken oder Haushalten verteilt.

Ihre Unterrichtung im Christentum beschränkte sich meist auf solche biblischen Aussagen, die die Sklaverei rechtfertigen und zum Gehorsam aufrufen. Wenn Sklaven sich in ihrer spärlichen Freizeit zu Tänzen zusammenfanden, sah man darin ein Zeichen guter Laune, ohne die kultische Bedeutung das Tanzes in afrikanischen Traditionen zu kennen.

Eine synkretistische Religion
So gut wie alle Weltreligionen sind synkretistisch, d. h. sie haben sich aus anderen Religionen entwickelt, oder Elemente anderer religiöser Vorstellungen absorbiert. So ist unbestritten, dass das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen ist, und der Islam sich ursprünglich als weiterführende Verbindung von Juden- und Christentum verstand.

Bei den afro-amerikanischen Kulten, die erst in den letzten Jahrhunderten, besonders in der Neuen Welt, aber in vergleichbarer Form auch in Afrika, entstanden sind, wird die Verknüpfung von afrikanischer Naturreligion mit christlichem Denken deutlich.

In den katholischen Ländern Lateinamerikas mischten sich alte afrikanische Rituale mit christlichen Lehren zu neuen Religionen, deren Anhängerschaft sich erweitert: Waren es ursprünglich nur afrikanische Sklaven und deren Nachkommen, also besonders die Ärmsten der Armen, so fanden sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auch Anhänger unter der weißen Mittelschicht, sogar unter Intellektuellen, Politikern und ökonomischen Führungskräften (7, S. 8).

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kamen die afro-amerikanischen Religionen, verwiegend durch Migranten aus Kuba, auch in die USA. Zuletzt wurden die Götter und Geister Afrikas noch als touristische Attraktionen entdeckt.

Afro-amerikanische Neureligionen
Es handelt sich um zahlreiche religiöse oder kultische Gruppen, die – mehr oder weniger unabhängig von einander – in verschiedenen Regionen entstanden. Meist gibt es nur lose Kontakte zwischen den einzelnen „Tempeln“ oder Gemeinden, so dass es keine von allen akzeptierten Lehren, keine verbindliche Theologie geben kann.

Als die wichtigsten Gruppen gelten Voodoo (Haiti ), Santeria (Kuba), Candomblé und Umbanda (Brasilien).

Im Mittelpunkt dieser Form der Religiosität stehen Transzendenzgläubigkeit, Opfer und Rituale. Es handelt sich um basisorientierte Bewegungen, die aus der Volksreligiosität entstehen und meist keine Opposition zu den Regierenden bilden. Es sind auch keine Satanskulte, auch wenn die eine oder andere Gruppe in den Satanismus abgedriftet sein mag, und Missionare oft religiöse Rituale, die sie nicht verstanden, bedenkenlos verteufelten.

Geistwesen:
Die afro-amerikanischen Religionen lehren den Glauben an „Geister“ oder höhere Wesen unterschiedlicher Art, die der vorkolonialen, afrikanischen Religion entstammen. Deren Bilder haben sich mit denen christlicher Heiliger vermischt und ihre Namen sind in den unterschiedlichen Regionen verschieden. Neben diesen „Geistern“ haben auch die Ahnen bzw. die Ahnengeister Bedeutung. Manche Religionswissenschaftler sprechen daher auch von „Ahnenkulten“.

Diese „Götter“, „Geister“ oder „Ahnen“ sind allgegenwärtig und greifen in das Leben der Menschen ein; sie können helfen oder strafen. Man tut also gut daran, sich ihre Gunst zu sichern, indem man ihnen den erwarteten Respekt zollt, Opfergaben darbringt und die religiösen und sittlichen Gebote beachtet. Um zürnende Gottheiten milde zu stimmen, die vielleicht zur Strafe eine Krankheit gesandt haben, muss man mit ihnen Kontakt aufnehmen. Das geschieht in einer Zeremonie mit Hilfe eines Priesters.

Trance-Tänze
In den typischen Ritualen werden Verbindungen zu den „Geistern“ gesucht, die vom Körper einer in Trance gefallenen Person (vorübergehend) Besitz ergreifen. Solche Trance-Phänomene werden mit Vorliebe in Film und Fernsehen dargestellt: Tänzer, die – berauscht von Trommelrhythmen die Kontrolle über Körper und Bewusstsein verloren haben und einem „Geist“ ausgeliefert sind.

Initiation
Auch einen Einweihungsweg gibt es, auf dem Personen, die in engeren Kontakt mit einem „Geist“ treten, stufenweise in die Geisterwelt eingeführt werden. Diese Einweihung erfolgt selten freiwillig. Sie ist anstrengend und kostspielig, und der Eingeweihte muss Verpflichtungen gegenüber seinem „Tempel“ übernehmen.

Magie
Für aufgeklärte Abendländer schwer nachvollziehbar sind die zahlreichen Anwendungen der sympathetischen Magie, die verschiedensten Zielen dienen: Von der Verwünschung eines Feindes, der Abwehr eines Schadenszaubers, über den Liebeszauber bis zur Heilung von Krankheiten.**)

Die Anwendung „weißer“ oder „schwarzer“ Magie, um außergewöhnliche Dinge auf übernatürliche Weise zu erreichen, wird in Büchern über Voodoo heiß diskutiert. Europäische Voodoo-Anhänger lehnen den Gebrauch der schwarzen Magie meist entschieden ab. Dabei ist nicht zu übersehen, dass jeder, der ein magisches Ritual praktiziert, sich möglicherweise fremden Einflüssen ausliefert, die er nicht zuverlässig kontrollieren kann.

Zombies
Durch Gruselgeschichten auch bei uns populär geworden sind die Zombies. Davon gibt es angeblich zwei Arten:

Einmal körperlose Seelen, die einem (böswilligen) Magier dienen und ihn bei seinen schwarzmagischen Praktiken unterstützen müssen.

In einschlägigen Horrorfilmen tritt meist die zweite Art von Zombies auf: Durch magische Künste zum seelenlosen Leben erweckte Leichname, die dem Magier als willenlose Sklaven dienen müssen. In Haiti z.B. gehen Geschichten um von solchen, von einem Magier versklavten Verstorbenen, und die Furcht ist verbreitet, dass man selbst oder ein geliebter Angehöriger in die Klauen eines Schwarzmagiers geraten, und ihm als Zombie verfallen könnte.

Kardezismus
Der französische Spiritist Hyppolite Léon Denizard Rivail (1804-1869) hatte seit 1855 Botschaften von einem Jenseitigen empfangen, der sich als Druide mit dem Namen Allan Kardec zu erkennen gab.

Die spiritistischen Botschaften dieses angeblichen Druiden wurden unter dem Titel „Le livre des esprits“ (Das Buch der Geister) mit Kardec als Verfasser publiziert. Diese Schrift, in Europa wenig beachtet, erlangte dominierenden Einfluss auf den Spiritismus in Lateinamerika, und wurde zu einem grundlegenden religiösen Buch des „Kardezismus“. Aus einer Verbindung dieses Spiritismus (dem Kardezismus) mit Candomblé entwickelte sich Umbanda.

Magie in Oberbayern?
Religionswissenschaftler sehen in der Magie die älteste und ursprünglichste Äußerung der Religiosität: Fruchtbarkeit, Jagderfolg, glückliche Partnerschaft, Gesundheit (Vermeidung von Krankheit) bei Mensch und Tier, Abwendung von Unwettern und Katastrophen, sind wichtige Anliegen in allen Kulturen, zu allen Zeiten. Diese im tiefsten Menschlichen verankerten Wünsche versucht man – wie deutlich nachgewiesen scheint – seit der Altsteinzeit mit magischen Praktiken zu erfüllen, die sich in vielen religiösen Gebräuchen, wie auch im Volksglauben und Aberglauben bis heute erhalten haben.
Dazu ein Beispiel einer „voodoo-ähnlichen“ Beschwörung aus dem 19. Jahrhundert, in dem der „Zauberer“ ein katholischer Geistlicher ist:

„…Jeder weiß, dass es Geistliche gab und gibt, welche die Gewitter durch Gebete und Zaubersprüche abwenden. In der Bavaria ist zu lesen, dass es bei solchen Geistlichen mehr auf eine gewisse angeborene Zauberkraft ankomme als auf ein erworbenes, hierauf bezügliches Wissen.
Meine Erfahrungen unter dem Volk sprechen gegen diese Meinung. Das Wettersegnen erfordert ein ganz bestimmtes ‚Gstudieren‘, dem aber heutzutage leider nur wenige mehr obliegen. Einer der früheren Pfarrer von Schliersee soll sich auf diese nützliche Kunst ausgezeichnet verstanden haben. Oft gelang es ihm, dass er den Gewitterhagel von der Brecherspitze und den Grasweiden und Gärten Schliersees weg in die Wälder des Baumgartens und des Kreuzberges ‚ummisegnen‘ konnte. Das ‚Ummisegnen‘ ist hier nicht etwa als ein Ausfluss jener Frömmigkeit zu betrachten, der wir den schönen Spruch verdanken: ‚O heiliger Florian, verschon mein Haus, zünd andere an!‘, sondern ein Abwenden von der Beschädigung menschlicher fruchtbringender Pflanzungen in die Wildnisse der Alpen. Doch kann es in benachbarten Gemeinden, deren eine einen kundigen, die andere dagegen einen unkundigen Wettersegner besitzt, allerdings so treffen, dass die der einen Flur von oben zugedachte Verwüstung durch fromme Sprüche auf die Äcker der anderen abgewendet wird – nachdem sich das Wetter doch einmal irgendwo seiner eisigen Last entladen muss.
Das ‚Ummisegnen‘ besteht eigentlich nur in der Kunst, die Hexen zu vertreiben, welche das Wetter machen. Denn ein Gewitter ist weiter nichts als das infernale Konzert dieser verdammten Weiber. Und gerade deshalb ist es eine schwere Arbeit – der unsichtbare Chor will den Priester mit fortwirbeln, ihn hineinziehen in das wilde Gejaid.
Deshalb muss dieser immer eine oder mehrere fromme Personen um sich haben, die ihn festhalten, während er aus einem Buch seine Formeln liest. Es kommt dessenungeachtet vor, dass ihn die Gewalt der Dämonen fußhoch vom Boden in die Höhe schleudert.“

(Heinrich Noe: „Bayerisches Seenbuch“, 1865, Nachdruck Hugendubel, München, o.J., S. 152)
Heinrich Noe (1835-1896) war Hof- und Staatsbibliothekar in München und soll siebzehn Sprachen gesprochen haben. Dann schrieb er als freier Schriftsteller Landschaftsbücher, die zu den Klassikern der alpenländischen Reiseliteratur zählen.

Geheimnisvolle Rituale
In Europa ist – meist nur dem Namen nach – vor allem Voodoo bekannt, mit seinen nächtlichen Zeremonien, die mit Gebeten und Händeklatschen beginnen. Dann setzen Rasseln und Trommeln in Trance-Rhythmen ein und übertönen die Gesänge…
Tieropferungen (Hühner, Ziegen, Stiere, Schweine) finden meist schon vor Beginn des öffentliches Festes statt. Bei der rituellen Schlachtung wird Blut des geopferten Tieres getrunken, das in besonderer Weise Träger spiritueller Energie sein soll. Die oft wiederholte Behauptung liegt nahe, dass früher auch Menschen geopfert wurden; zumal in der Kultur der vorkolumbischen amerikanischen Völker Menschenopfer oder ritueller Kannibalismus verbreitet waren.

Diese düsteren Rituale ziehen auch moderne Menschen an, die sich von den magischen Praktiken faszinieren lassen, und „spirituelle Kraft in den Ritualen“ spüren (6, S. 54). In amerikanischen oder europäischen Großstädten finden sich Voodoo-Gläubige wie auch Geschäfte, die Voodoo-Puppen und andere Voodoo-Accessoires verkaufen.

Woodoo-Rhythmen inspirierten angeblich auch die populäre Musik wie Blues, Jazz, Rock and Roll. In den Texten mancher Sänger sollen Bilder und Metaphern auftauchen, wie sie auch in Woodoo-Ritualen vorkommen und einzelne Texte erscheinen geradezu satanistisch (1, S. 423).

Zurück zu den Wurzeln
In den afro-amerikanischen Religionen, die sich ausbreiten und in einigen Staaten vor der Anerkennung als Religion stehen (wie schon in Benin (West-Afrika) geschehen), kann man eine Verbindung sehen des spirituellen Bewusstseins zweier Kulturen.

Die ihrer afrikanischen Heimat entrissenen Vorfahren gaben von Generation zu Generation ihre Rituale und religiösen Erfahrungen weiter, bis diese mit christlichen Vorstellungen zu neuen multikulturellen Religionen verschmolzen. Die Denkweisen, Sitten, Riten, Überlieferungen der einstigen Unterdrücker werden nicht undifferenziert übernommen, sondern nach der eigenen Identität, der für die eigene Gruppe geeigneten Glaubensform gesucht.

Bis weit ins 20. Jahrhundert konnten die afro-amerikanischen Kulte nur im Geheimen praktiziert werden, da sie fast überall – sowohl in Amerika wie in Afrika – verboten waren. Die Entwicklung dieser vielfältigen Religionen ist noch im Fluss. Umbanda z.B. strebt eine einheitliche Priesterausbildung und Theologie an, die dann langfristig wohl in bürokratische Formen münden würde, die der Spiritualität abträglich sind.

Wie alle Religionen, fördern auch diese für uns fremdartigen Kulte den Zusammenhalt zwischen ethnischen und sozialen Gruppen, wirken identitätsstiftend und überwinden rassische Schranken zwischen ihren Bekennern; sie sind daher auch von politischer Relevanz.

Vielleicht es ist interessant, in diesem Zusammenhang noch zu erwähnen, dass manche Religionswissenschaftler der Meinung sind, dass die Globalisierung in unserer multikulturellen Welt nur dann zum Erfolg werden kann, wenn eine für alle Ethnien und Bekenntnisse akzeptable Religion die friedenstiftende Klammer zwischen den verschiedenen Völkern bildet.

Das müsste allerdings eine umfassende Hochreligion sein, keine Synthese einer Weltreligion mit archaischen mystisch-magischen Praktiken, die für die Mehrzahl der modernen Menschen kaum annehmbar sind. 

                                  -.-.-.-.-

Lesen Sie dazu auch unter Buchbesprechungen „Im Lichte der Wahrheit“ und in „Kurz, knapp, kurios“ auf Seite 262 „Der sagenhafte Cargo-Kult“.

Endnoten: 
*) Man sieht unwillkürlich Parallelen zum Hinduismus, wo der Schöpfergott Brahma weniger beachtet wird als Shiwa (Zerstörer) und Wishnu (Bewahrer). So findet man immer wieder Ähnlichkeiten zwischen ganz verschiedenen Religionen, die anscheinend keinerlei Verbindungen aufweisen. 
**) Vgl. unter „Welche Apokalypse kommt“ die Endnote [V] die den Einfluss der Schwarzen Magie in Afrika erwähnt.

Literatur:
(1) Baigent, Michael/Leigh Richard, Verschlusssache Magie, DroemerKnaur, München 1997.
(2)Brackmann Richard W., Der Umbanda-Kult in Brasilien, Sonderdruck aus Staden-Jahrbuch, Band 7/8, 1959/60.
(3) Burkhart Gregor, Die Kinder Omulús, Peter Lang, Frankfurt, 1994.
(4) Drehsen Volker, Wörterbuch des Christentums, Orbis, München 1995.
(5) Henning Christoph/Oberländer Hans, Voodoo, Taschen, Köln 1995.
(6) Neimark Philip J., Die Kraft der Orischa, O.W. Barth, München 1996.
(7) Reuter Astrid, Voodoo, C. H. Beck, München, 2003.
(8) http://www.magieheim.at/nemo/vorurteile.html.
(9) http://www.paranormal.de/voodoo.
(10) http://www.schwarzaufweiss.de/benin10.html.