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Religionsgeschichte

Die Urchristlichen Gemeinden

(Veröffentlicht in GralsWelt 16/2000)

Die Entstehungsgeschichte der ersten christlichen Gemeinschaften ist bis heute nur unvollständig bekannt. Wichtigste Quelle ist seit alters her die Apostelgeschichte im Neuen Testament, die allerdings erst zwischen 80 und 100 geschrieben wurde. Sie nimmt den Standpunkt der von Paulus gepredigten Lehre ein. Diese wurde von der sogenannten „Heidenmission“ verbreitet, aus der sich später die Großkirche entwickelte.

Die Judenchristen

Historiker gehen davon aus, dass die erste christliche Gemeinde durch die Erscheinungen von Jesus nach seiner Kreuzigung und durch das Pfingstereignis entstanden ist. Als die Apostel sieben Wochen nach der Kreuzigung im Gedenken an ihren Meisters zur Feier des Schavuoth[i] zusammenkamen, hatten sie ein gemeinsames mystisches Erlebnis, das im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte als „Ausgießung des Heiligen Geistes“ beschrieben wird. Diese religiöse Erfahrung war der Auslöser für eine folgenreiche Kündungs- und Missionsarbeit.

An der Spitze dieser Urchristen standen zwölf Apostel (Judas wurde durch Mathias ersetzt, Apg. 1, 15-22), darunter die „drei Säulen“ Petrus, Jakobus und Johannes. Nachdem Petrus wegen jüdischer Nachstellungen aus Jerusalem fliehen musste, blieb Jakobus, „des Herrn Bruder“ (Gal. 1, 19), bis zu seiner Steinigung im Jahr 62 der unangefochtene Leiter der Jerusalemer Gemeinde. Sein Tod auf Veranlassung des Hohepriesters wurde von den Pharisäern beklagt (3, S. 54).

Die Judenchristen hielten sich streng an das jüdische Gesetz und lebten als Kommune (Apg. 2, 44-45) in der unmittelbaren Erwartung der Wiederkunft des Herrn.

Kurz vor oder zu Beginn des jüdischen Krieges (66-70), eines Aufstandes der Juden, den die Römer niederschlugen, wanderte der größte Teil dieser urchristlichen Gemeinschaft, darunter Blutsverwandte von Jesus, vermutlich aufgrund einer Prophezeiung vom Untergang Jerusalems (Matth. 24, 15-20) nach Pella (heute Tabakat-Fahal in Ostjordanien) aus. Seit Irenäus[ii] wurden sie „Ebioniten“ genannt (von hebr. „die Armen“, griech. Ebionäer oder Nazoräer). Ihre Lehre hatte viele Gemeinsamkeiten mit der der Essener.

Diese Judenchristen wurden von strenggläubigen Juden ausgestoßen und später von der heidenchristlichen Großkirche abgelehnt. So gerieten sie in zunehmende Isolierung, und im 4. oder 5. Jahrhundert verschwanden ihre Gemeinden aus der Geschichte.

Die Heidenmission

In der urchristlichen Gemeinde gab es von Anfang an unterschiedliche Auffassungen über Art und Ziel der Missionsarbeit.

Die „Judenchristen“ wollten nur Juden bekehren. Sie bestanden auf strenger Einhaltung jüdischer Gesetze, die sie – gleich den Essenern – durch besondere Speise- und Sabbatvorschriften noch verschärften. Auch hielten sie an der Beschneidung fest.

Solche altjüdischen Vorschriften waren bei der Bekehrung von „Heiden“ (hier definiert als Nichtjuden) nur schwer durchzusetzen. Also empfahlen griechisch sprechende Judenchristen, darunter Stephanus, ein flexibleres Vorgehen.

Etwa drei Jahre nah der Kreuzigung Christi wurde Stephanus – später als erster christlicher Märtyrer verehrt – von fanatischen Juden gesteinigt. Das war die erste Christenverfolgung, die sich gegen christliche Hellenen richtete, während die Judenchristen bis ca. 44 ziemlich unbehelligt blieben.

Es folgten bald weitere Verfolgungen der hellenischen Christen (Apg. 8), an denen Saulus beteiligt war, und die Zerstreuung der „Heidenchristen“. Diese flohen über Samaria nach Antiochia. Dort dürfte sich ihnen der zu Paulus gewandelte Saulus angeschlossen haben. Bald wurde er die dominierende Persönlichkeit der Heidenmission.

Die Spannungen zwischen der Heidenmission und der Jerusalemer Gemeinde waren damit eskaliert. Denn die in Jerusalem wirkenden Apostel lehnten Paulus und seine Lehren ab. Die Apostelgeschichte berichtet von zwei Besuchen des Paulus in Jerusalem, lässt jedoch Meinungsunterschiedenheiten nur ahnen.

Mit der Zerstörung von Jerusalem durch Rom erledigte sich zunächst der Streit zwischen Judenchristen und Heidenmission. Die von Paulus und seiner Theologie  dominierte Heidenmission breitete sich im Römischen Reich aus und wurde zur Großkirche, die die Ebioniten, darunter Nachfahren der ersten Apostel und auch der Blutsverwandten von Jesus, als „häresis soleratissima“, als „besonders abscheuliche Sekte“, verdammte. Diese Häretiker leugneten ja die Jungfrauengeburt (als Verwandte wussten sie es vielleicht anders, 2, S.181) und lehnten Paulus und die von ihm entwickelte Erlösungslehre ab.

Endnoten:
[i] Schavuoth, das „Fest der Wochen“, wird sieben Wochen nach Passah (Ostern) als Erinnerungsfest an die Stiftung der Zehn Gebote gefeiert. Das Christentum übernahm diesen Termin für sein Pfingstfest.
[ii] Irenäus, griechischer Kirchenvater und bedeutendster Theologe des zweiten Jahrhunderts, gestorben 202.
Literatur:
(1) Drehsen, Volker u. a.: Wörterbuch des Christentums, Orbis, München, 1995.
(2) Lehmann, Johannes: „Das Geheimnis des Rabbi J.“, Droemer-Knaur, München, 1990.
(3) Schneider, Carl: „Geistesgeschichte der christlichen Antike“, DTS, München, 1978.