Zeugen vorgeschichtlicher Kulturen in den Alpen
(Veröffentlicht in Gralswelt 76/2013)
Wer mit offenen Augen durch die Alpen wandert, wird immer wieder daran erinnert, dass die Geschichte des Alpenraumes nicht erst mit dem Eindringen der römischen Eroberer begann. Denn trotz ihres abweisenden Klimas sind die Täler der Alpen seit Jahrtausenden besiedelt. Jäger, Hirten und Händler überschritten die Alpenpässe schon vor fünf oder Zehntausend Jahren[i]. So sind auch aus Zeiten lange vor der Einführung des Christentums vielerorts heidnische Symbole oder Spuren von vorchristlichen Kultstätten erhalten.
Beispiele für Relikte aus vergessenen Zeiten wären Tausende von Felszeichnungen an vielen Plätzen in den Alpen (vgl. in „Kurz, knapp, kurios“ Seite 157 „Spuren aus der Vorzeit“).
Etliche heidnische Kulte, zum Beispiel Fastnachtsbräuche, Krampus- und Perchtenläufe, Sonnwendfeuer usw. haben sich mehr oder weniger unverfälscht erhalten. Auch lassen manche Prozessionen ihren Ursprung aus vorchristlicher Zeit erahnen. Beispielsweise die Wallfahrt zum Latzfonser Kreuz (2300 m) unter der Kassiansspitze (bei Latzfons, einem Teil der Gemeinde Klausen in Südtirol), das als die höchste Wallfahrtsstätte Europas gilt.
Der Schlangenkult von Cocullo hat sich wohl in seiner ursprünglichen, vorchristlichen Form erhalten (vgl. „Reise zum Schlangenfest“, hier unter „Religionsgeschichte“); allerdings nicht in den Alpen, sondern in Süditalien. Auch im Fastnachtsbrauchtum finden sich vorchristliche Riten.
Die meisten der einst zahlreichen kultischen Relikte und Zeugnisse aus heidnischer Zeit sind heute vergessen, vorsätzlich zerstört, in die kirchlichen Feste integriert oder umgewidmet worden. Denn um 590 kam Papst Gregor der Große zu der Einsicht:
„Nach langer Überlegung habe ich erkannt, dass es besser ist, anstatt die heidnischen Heiligtümer zu zerstören, dieselben in christliche Kirchen umzuwandeln … Es ist nämlich unmöglich, die rohen Gemüter mit einem Schlage von ihren Irrtümern zu reinigen“ (1, S. 67).
So wurden auf den alten Kultstätten Kirchen oder Kapellen gebaut, oder wenigstens wurde ein christliches Kreuz aufgerichtet.
Aufgehäufte Steine
Auf allen Kontinenten finden sich Steinhaufen, Steinsetzungen, Steinmännchen als spielerische Kommunikation, Wegmarkierungen, Grenzzeichen usw., mit und ohne kultische Bedeutung. Die meisten sind jüngeren Datums. Nicht selten werden sie von Unwettern oder Lawinen umgeworfen und müssen dann alle paar Jahre erneuert werden. Auch in den Alpen sind solche Steinhaufen vielerorts zu finden. So mancher Alpinist schaute überrascht, als er auf einem bislang angeblich unerstiegenen Gipfel ein Steinmännchen vorfand (2, S. 41).
In der Errichtung von Steinhaufen dürfen wir wohl die älteste und ursprünglichste Form aller Monumente und der Steinarchitektur erblicken (1, S. 10). Auch in der Bibel wird in Genesis 31,45 eine symbolbehaftete Steinsetzung bei einem Vertragsabschluss zwischen Jakob und Laban erwähnt.
Ein Hexentanzplatz im Gebirge?
Die eindrucksvollsten Zeugnisse der alpinen Steinsetzungen finden sich in Form der „Stoanernen Mandlen“ (steinernen Männchen) am Auenjoch im Sarntal (Südtirol). Es sind über hundert Steinmännchen, an denen Touristen und Wanderer noch heute weiter bauen.
„Schon seit ‚vorchristlichen‘ Zeiten dürften dort Steine aufeinander geschichtet worden sein. In einer Urkunde aus dem Jahr 1540 wird berichtet, dass die Bäuerin Barbara Pachlerin [Anm.: Die Pachlerin gilt als die letzte, im Sarntal verbrannte Hexe], genannt die Pachlerzottl, sich wegen Hexerei vor Gericht verantworten musste. Während der Folter, der ‚peinlichen Befragung‘, soll sie gestanden haben, oben bei den ‚STOANERNEN MANDLEN‘ mit anderen Hexen und dem Teufel schadenbringende Unwetter gemacht zu haben … Diese Steinmänner sind die ältesten urkundlich erwiesenen Steindenkmäler solcher Art. Der Platz auf dem Joch gilt als ‚Hexentanzplatz‘. Frühgeschichtliche Funde in dieser Gegend reichen 7.000 Jahre zurück“ (2, S. 30).
Ob „Hexen“ hier getanzt haben?
Wie schon gesagt, haben sich Relikte vorchristlicher Kulturen an abgelegenen Plätzen, wie in den Alpen, noch lange erhalten. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich bis in die Neuzeit Frauen (und Männer?) zusammenfanden, um alte Rituale durchzuführen, die mit religiösen Tänzen verbunden waren. Die Pfaffen machten daraus den „Hexensabbat“.
Wer sich selbst einen Eindruck von diesem „Hexentanzplatz“ verschaffen möchte, der kann das breite Auenjoch mit seinen imponierenden Seteinsetzungen leicht erwandern.
Von Sarnthein (961 m) im Sarntal (bei Bozen) kommt man auf schmaler, asphaltierter Fahrstraße zur Sarner Skihütte (Berggasthof, 1618 m). Hundert Meter weiter bietet sich das kleine aber feine Hotel Auener Hof (1622 m) als ideale Übernachtungsmöglichkeit an. Sein Gourmet-Restaurant ist das höchstgelegene in Italien. Nun führen bequeme, ausgeschilderte Wanderwege, an der Auener Alm (1798 m) vorbei, über einen breiten Almrücken mit dem Auener Joch in anderthalb Stunden zum Gipfel der Großen Reisch (2003 m) mit den „Stoanernen Mandlen“. Der höchste Punkt bietet eine Aussichtswarte ersten Ranges mit beeindruckendem Rundblick. Hier vorbei führt auch ein alter Weg vom Sarntal zum Etschtal.
Auf der großzügigen Kuppe mit ihren vielen Steinmännchen werden Gedanken beflügelt, man gerät leicht ins Träumen. Eine vorgeschichtliche Kultstätte kann man sich dort gut vorstellen. Haben Schamanen, maskiert und in phantasievollen Gewändern, hier einst geheime, uns fremde Rituale durchgeführt?
Genaueres werden wir wohl nie erfahren. Dann die geheimnisumwitterten Spuren aus der Vorzeit lassen zwar die Anwesenheit von Menschen erkennen. Doch was diese Menschen dachten, wie sie empfanden und welche religiösen Handlungen sie wann und zu welchen Zwecken praktizierten, lässt sich aus ihren wenigen Hinterlassenschaften nicht entschlüsseln.
Literatur:
(1) Heid Hans, Mythos und Kult in den Alpen, Rosenheimer, Rosenheim 2002.
(2) Menara Hanspaul, Sarntaler Alpen, Athesia, Bozen 1982.
(3) http://www.knurre.de/best_of_2007_10.html.
Endnote:
[i] Das Alter der berühmten Gletschermumie vom Tisenjoch (Ötztaler Alpen), der „Ötzi“, wird auf ca. 5.300 Jahre geschätzt.