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Gedenktage

Die Weltbeschreibung des kühnen Kant

(Veröffentlich in GralsWelt 35/2005)

Zum 14. März 1755.
ZWEIHUNDERT  JAHRE „ALLGEMEINE  NATURGESCHICHTE  UND  THEORIE DES HIMMELS

Kant als Naturforscher
Im vergangenen Jahr 2004, dem zweihundertsten Todesjahr von Immanuel Kant (1724-1804), wurden vielfach seine Bedeutung und seine Leistungen als Philosoph und Erkenntnistheoretiker gewürdigt, da er zu den wichtigsten Denkern gezählt wird. Weniger beachtet in diesen Laudationes wurde Kant als Naturwissenschaftler und Astronom. Jedoch überwogen bis in die sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts in seinen Werken naturwissenschaftliche Fragestellungen. Allerdings hat Kant selbst keine Experimente durchgeführt oder in seine Überlegungen einbezogen. Darin unterscheidet er sich von den beiden anderen Großen, die gleichermaßen Naturwissenschaftler wie Philosophen waren: René Descartes (1595-1650) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716).

Allgemeine Naturgeschichte 

Vor 250 Jahren erschien eines der kühnsten Werke der Wissenschaftsgeschichte. Der junge Kant wagte sich als erster Astronom der Neuzeit an eine, auf den Newton’schen Gesetzen aufbauende, Beschreibung der Entstehung unserer Welt, des Sonnensystems .
Vergleichbare Versuche gab es zwar schon im Altertum, doch war damals die Basis der gesicherten Erkenntnisse viel zu schmal für eine brauchbare wissenschaftliche Welterklärung. In der Neuzeit sahen dann z.B. Descartes und Leibniz die Welt nicht mehr als ein statisches System, und Descartes wagte sich an eine Wirbelhypothese, die den Ursprung der Planeten erklären sollte.
Doch Kant brachte mehr: Eine „systematische Verfassung des Weltbaues“, die die Entstehung unseres Sonnensystems mit seinen Planeten und Kometen, die Struktur des Saturnringes usw. folgerichtig und logisch aus den Gesetzen der Natur erklären wollte. Die „Hand Gottes“, oder der „erste Beweger“ – an den noch Isaak Newton (1643-1727) glaubte – schienen nun entbehrlich, zum Entsetzen der Kirchen.

Die Kant-Laplace’sche Kosmologie
Nach der Kant’schen „Wirbelhypothese“ begann unser Sonnensystem mit einer riesigen, interstellaren, molekularen Wolke, die aufgrund der eigenen Schwerkraft sich zu Weltenkörpern zusammenballte. Allerdings ließen sich viele Phänomene unseres Planetensystems dieserart nicht befriedigend erklären; z.B. die Tatsache, dass sich alle Planeten – mit geringen Abweichungen – in der selben Bahnebene bewegen.
Hier setze die „Laplace’sche Theorie“ an, mit auf den ersten Blick überzeugenderen Erklärungen. Während Kant von einem ruhenden Nebel ausging, der sich dann nach und nach zu den astronomischen Körpern unseres Planetensystems verdichtete, nahm Laplace einen rotierenden Nebel an, der sich durch die Fliehkraft auseinander zog. Damit schien klar, warum sich alle Planeten in nahezu der selben Bahnebene bewegen.
Da beide Theorien annehmen, unserer Sonnensystem habe sich aus einem riesigen Urnebel gebildet, wurden sie später zusammenfassend unter dem Namen „Kant-Laplace’sche Hypothese“ in den Lehrbüchern diskutiert.
Aus heutiger Sicht können beide Hypothesen – einzeln oder sich ergänzend – den Ursprung unseres Sonnensystems nicht befriedigend beschreiben, und es dauerte bis ins 20. Jahrhundert, bis modernere Annahmen und kompliziertere Rechenverfahren die Bildung unseres Planetensystems aus einer gewaltigen Nebelwolke besser erklären konnten.

Die neue Weltordnung
Dieser neue Ansatz der Wissenschaften, wie er beispielhaft in den astronomischen Arbeiten Kants oder der Laplace’schen Himmelsmechanik zum Ausdruck kommt, geht davon aus, dass sich die Entstehung der Welt allein aus den Naturgesetzen, also den uns zugänglichen und von uns verstehbaren natürlichen Gesetzmäßigkeiten, erklären lässt. Ein direkter Eingriff des Schöpfers – für Theologen lange eine Selbstverständlichkeit – schien nun nicht mehr erforderlich. Alles sollte sich auf „natürliche“, auf eine dem Menschen verstehbare Weise entwickeln. Mit „übernatürlichen Einflüssen“ – mit dem „Finger Gottes“ bis zum Wirken von Hexen, Zauberern, Gespenstern – war nicht mehr zu rechnen.
Das kommt in einer bekannten Anekdote zum Ausdruck: Als Laplace seine „Himmelsmechanik“ – lange ein führendes Standardwerk für Astronomen – Napoleon vorlegte, soll dieser (selbst ein guter Mathematiker) verwundert gefragt haben, warum Gott in dieser Arbeit nicht erwähnt sei. Stolz soll Laplace geantwortet haben: „Sire, dieser Hypothese bedurfte ich nicht“.
Laplace konnte die Bahnen der Planeten mit (für seine Zeit) genügender Genauigkeit berechnen, er kam zu der Überzeugung, dass unser Sonnensystem mit seinen geschlossenen Planetenbahnen dauerhaft stabil sei, und demnach die bislang angenommen „göttlichen Eingriffe“ zur Erhaltung und Stabilisierung der Welt unnötig scheinen.

Übereinstimmung über die Annahme Kants, dass es „ohne diesen Mechanismus der Natur“ keine Naturwissenschaft geben könne, herrscht bis heute; auch wenn die Naturgesetze längst weit mehr umfassen, als die Kant bekannte Newton’sche Mechanik.

Könnten sich aus den Naturerscheinungen nicht erkennbare, messbare, dann von uns Menschen anwendbare berechenbare und sogar voraussagbare Folgerungen ableiten lassen, also „Gesetze“, die sich sichtbar bewähren, wäre auch jegliche Naturforschung zum Scheitern verurteilt, unsere Welt erschiene uns – wie einst Menschen des Mittelalters – als ein unbegreifliches Chaos.

Literatur:
(1) Kant, Immanuel: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“, Kindler, München 1971.
(2) Littrow, Jos. Joh. v./Stumpff, Karl: „Die Wunder des Himmels“, Ferd. Dümmler, Bonn, 1969.
(3) Miller, A. G.: „Sonne, Mond und Sterne“, Zsolnay, Wien, 1957.