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Gedenktage

Der Nikolsburger Friede: Bismarcks größte Leistung?

Zum 200. Geburtstag von Otto von Bismarck (1. 4. 1815 – 30. 7. 1898).

„Noch nach einem Jahrhundert erscheint Nikolsburg als der glanzvolle Höhepunkt in Bismarcks Laufbahn. Den Sieg vorzubereiten und dann auf der Höhe des Erfolges innezuhalten, maßvoll zu sein, den Geschlagenen zu versöhnen und sich dafür mit Leidenschaft einzusetzen – keinen größeren Ruhm kann es für einen Staatsmann geben.“ (Paul Sethe (1901-1967); 7, S. 107).

“Und so wird jeweils in die Geschichte als Tatsache eingehen, was die Mehrheit derer, die sich gegenseitig Kompetenz zuschreiben, für das Zutreffendste halten. Unbeantwortet bleibt dabei, wie nahe diese Feststellungen der idealen Beschreibung kommen, weil es diese aus unserer Perspektive nicht gegen kann.“  (Prof. Dr. Wolfgang Singer (1, S. 72).

In der GralsWelt haben wir schon mehrfach erwähnt, dass die Geschichtsschreibung meist in der Hand von Geisteswissenschaftlern liegt, in deren Horizont naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen zu wenig Platz finden. So werden nicht selten die Einflüsse von Krankheiten oder technischen Innovationen auf die historische Entwicklung unterbewertet und dann unzutreffende Schlussfolgerungen gezogen. (Vgl. „Als Krankheiten Geschichte schrieben“; „Die machtsvollste Erfindung der Weltgeschichte“, beide unter „Geschichte“).

Dazu wollen wir uns heute ein dafür typisches Ereignis ansehen, das oft fehlinterpretiert wird: Der Vorfrieden (Waffenstillstand) von Nikolsburg.

Die Vorgeschichte

Nach den Napoleonischen Kriegen wurde vom „Wiener Kongress“[1] eine einigermaßen stabile Friedensordnung geschaffen. Doch die Entwicklung ging weiter. Die industrielle Revolution erreichte von England aus den Kontinent. Industrie und Rohstoffe – damals vor allem Kohle und Eisenerz – gewannen an Bedeutung, die wirtschaftlichen und damit die militärischen Gleichgewichte verschoben sich.

Über viele Jahrhunderte war Land der wertvollste Besitz. Alle Staaten strebten nach der Ausweitung ihrer Herrschaftsgebiete. Eine im Industriezeitalter eigentlich überholte Politik, die aber noch immer weltweit praktiziert wird. Denn kaum ein Staat ist bereit, z. B. einer Volksgruppe – ob Abchasen, Kurden, Osseten, Palästinenser, Tibeter, Tschetschenen, Uiguren oder sonstigen ethnischen oder religiösen Minderheiten – einen Autonomie-Status zu gewähren, oder sie gar aus seinem Herrschaftsverband zu entlassen. So gesehen war der Zerfall einer Großmacht wie der Sowjetunion in kleinere Staaten, ohne Krieg oder Bürgerkrieg, ein einmaliges historisches Ereignis.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Frankreich, Österreich-Ungarn und Preußen Konkurrenten als maßgebliche Führungsmächte in Mitteleuropa. Dem Denken der Zeit entsprechend, mussten diese Rivalitäten früher oder später auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden.

Für ein einiges Deutschland

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehnten sich viele Deutsche nach einem vereinigten Staat, der aber unerreichbar schien. Die Aufstände von 1848 und 1849 waren niedergeschlagen, und die demokratischen Ansätzen in der Paulskirche[2] gescheitert.

Dann packte Otto v. Bismarck, als preußischer Ministerpräsident, das Problem diplomatisch und militärisch an. Im Zuge von drei Kriegen gelang ihm die Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches unter preußischer Führung.

Diese Einigungskriege begannen mit dem Deutsch-dänischen Krieg von 1864, in dem Österreich und Preußen, als Mitglieder des Deutschen Bundes[3], Verbündete waren. Das Königreich Dänemark wollte vertragswidrig die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg in den dänischen Kernstaat integrieren. Es kam zum Krieg, der mit einer Niederlage Dänemarks endete. Danach erhielt Preußen die Herzogtümer Sachsen-Lauenburg und Schleswig. Holstein fiel an Österreich.

1866 marschierten preußische Truppen in das von Österreich besetzte Holstein ein. Diese Aggression war der Anlass für den Österreichisch-preußischen Krieg von 1866. Preußen verließ den Deutschen Bund.

Die Schlacht von Königgrätz

Im zweiten der deutschen Einigungskriege, nun zwischen Österreich und Preußen, standen die meisten der deutschen Staaten, auch Bayern und Sachsen, als Mitglieder des Deutschen Bundes auf österreichischer Seite. Doch die preußischen Truppen schienen überlegen. Sie überrannten Sachsen, und nach wenigen Wochen kam es 3. Juli 1866 bei Königgrätz[4] in Böhmen zu einer viel beachteten Entscheidungsschlacht. Es war die größte Schlacht in Europa seit den Napoleonischen Kriegen, an der eine halbe Million Soldaten beteiligt waren.

Die preußischen Truppen waren mit Hinterladern – dem Zündnadel-Gewehr – ausgerüstet und konnten in wichtigen Phasen der Schlacht durch schnelleres Feuern den nur mit Vorderladern bewaffneten Gegner zurückschlagen. Dafür war die österreichische Artillerie der preußischen überlegen.

Tatsächlich gaben wohl taktische und strategische Entscheidungen den Ausschlag. Die Österreicher und ihre Verbündeten mussten sich nach der verlustreichen Schlacht, zum großen Teil in Unordnung, zurückziehen. Viele gerieten in Gefangenschaft. Die preußischen Truppen hatten einen eindeutigen Sieg errungen (2).

Weit mehr Menschen starben durch Seuchen als durch Waffen
Bevor die Bedeutung der Hygiene erkannt wurde, gab es in allen Kriegen unter den Kombattanten wie bei der Zivilbevölkerung weit mehr Tote durch Seuchen und Mangel an Sauberkeit als durch Feindeinwirkung. Sogar nach dem Ersten Weltkrieg starben noch zweieinhalbmal so viele Menschen an der Asiatischen Grippe als im Krieg.
Auch 1866 kamen weit mehr Menschen durch die Cholera ums Leben als im Kampf, wie Stefan Winkle schildert:
„Die Eilmärsche der Preußen durch Böhmen und Mähren hinterließen überall die Seuche ‚wie eine Fäkalspur’. Kaum war beim Vormarsch auf Wien der zwischen Preßburg und Krems liegende Teil von Niederösterreich besetzt, als sich auch dort die Cholera auszubreiten begann. Der Feldzug drohte den Charakter eines Seuchenzuges anzunehmen…
Das und nicht etwa das ‚Gefühl der Rücksicht gegenüber dem österreichischen Brudervolk’ war einer der Hauptgründe, weshalb Bismarck nach der Schlacht von Königgrätz der Fortsetzung des Krieges entgegentrat und zum beschleunigten Friedensschluss drängte. Im dem kurzen Feldzug 1866 verlor das preußische Heer 4450 Soldaten durch Verwundungen und 6427 durch die Cholera. Die Zivilbevölkerung Preußens hatte im selben Jahr 120 000 Choleraopfer zu beklagen.“ (8, S. 210 f.).

Ein historischer Friedensschluss

Nach dieser Schlacht wurde der Krieg sehr bald beendet, und zwar unter für die geschlagenen Österreicher günstigen Bedingungen. Der preußische König wäre zu gerne an der Spitze seiner Truppen in Wien eingezogen, auch wollte er sein Reich auf Kosten Österreichs und dessen Verbündeten erweitern. Sein Kanzler setzte andere Entscheidungen durch. Von den Historikern wird fast unisono Bismarcks Weitblick gelobt. Er dachte weiter als sein König und bot dem besiegten Österreich den günstigen Vorfrieden von Nikolsburg an.

Im endgültigen Friedensvertrag von Prag verlor Österreich seinen Einfluss auf die deutschen Staaten. Der Norddeutsche Bund[5] mit Preußen als Führungsmacht wurde gegründet. Die politischen Gewichte in Mitteleuropa verschoben sich. Die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Kampf aller deutschen Staaten im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 waren gegeben. So wurde 1871 die Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs möglich, das als Bismarcks Werk gilt.

In den historischen Analysen des Krieges von 1866 wird ein wichtiger Gesichtspunkt regelmäßig unterbewertet oder sogar missachtet: Die preußischen Truppen litten schwer unter der Cholera und waren nach der Schlacht von Königgrätz kaum noch kampffähig. Wären die Österreicher über den Zustand der preußischen Truppen im Bilde gewesen, der Krieg hätte anders enden können. Dann wäre auch die deutsche Geschichte anders verlaufen…

Friedensstifter Bismarck?

Wie sehen moderne Historiker Bismarcks Leistung als Friedensstifter?
Dazu einige Beispiele:
Bei Golo Mann wird Bismarcks Weitsicht gelobt:
„Nachdem er seinen König mit der emsigsten List und nervenpeinigenden Geduld in den Krieg gegen Österreich gezerrt hatte, zerrte er ihn nun, wiederum unter den entsetzlichsten Nervenstrapazen, aus dem Krieg heraus. Der gute Monarch wäre nur zu gern als Sieger in Wien eingezogen und hätte dem Feinde nur zu gern nach altem Brauch ein fettes Stück Land weggenommen. Bismarck sah nach St. Petersburg, wo man unruhig wurde. Er sah nach Paris, wo man sehr unruhig wurde und die Friedensvermittlung bot, um welche Österreich ersuchte. Er dachte, trotz des Siegesrausches der Gegenwart, an Gefahren und Wünschbarkeiten der Zukunft.“ (6, S. 348).
Paul Sethe erwähnt zwar die Cholera, erkennt sie aber nicht als den entscheidenden Zwang zur Friedensschließung.. Aus seiner Sicht ist der Friedensvertrag von Nikolsburg der Höhepunkt in Bismarcks Laufbahn:
„Der König bestand auf dem, was er für das Recht hielt. Zum äußeren Zeichen des Sieges aber wollte er in Wien an der Spitze seiner Truppen einziehen, was die Österreicher tief hätte verwunden müssen…
Dann wäre der Krieg weitergegangen mit einer zwar siegreichen, aber durch Cholera böse geschwächten Armee – und mit einem lauernden, grollenden Franzosen an der Flanke….
Aber es war nicht nur staatsmännische Voraussicht, es war auch ein elementares Gefühl, das [Bismarck] bewog, keinen neuen Waffengang zu versuchen. Er konnte die Toten von Königgrätz nicht vergessen.“ (7, S. 106/07).
In der umfangreichen Bismarck-Biografie von Ernst Egelberg heißt es:
„Nur allzu bald wirkten sich auf preußischer Seite jene Gesetzmäßigkeiten des Krieges aus, wonach sich der Eroberer durch seine eigenen Anstrengungen schwächt und die Schwierigkeiten der Besetzung eines großen Landes geometrisch wachsen, während der Umfang des besetzten Gebietes arithmetisch zunimmt. Die Versorgung der preußischen Truppenteile mit Lebens- und Futtermitteln, mit Schuhwerk und Bekleidung wurde immer schwieriger und war unzureichend geworden; die Ausbreitung der Cholera im eigenen Heer – schlechter Trost, dass es im gegnerischen Lager nicht besser war – nahm beängstigende Formen an…“ (3, S. 609).
„Bismarck rang damals, wie er später zusammenfasste, um die Einsicht des Königs, dass Preußen auch den aus Deutschland ausgeschlossenen ‚österreichischen Staat als einen guten Stein im europäischen Schachbrett und die Erneuerung guter Beziehungen mit demselben als einen für uns offen zu haltenden Schachzug’ ansehen müsse. ‚Wenn Österreich schwer geschädigt wäre, so würde es der Bundesgenosse Frankreichs und jedes Gegners werden; es würde selbst seine antirussischen Interessen der Revanche gegen Preußen opfern’. Wilhelm wusste einer solch klaren realpolitischen Argumentation gegenüber nur moralisierend aufzutrumpfen und eigensinnig auf einer militärischen Genugtuung für die Armee und Sühne in Form territorialer Annexionen zu beharren. Es war schwer für Bismarck, dem König klarzumachen, dass Preußen nicht eines Richteramtes zu walten, sondern Politik zu machen hätte.“ (3, S. 611).

Im letzten Satz erkennt man bei Bismarck, als Diplomaten des 19. Jahrhunderts, eine andere Einstellung zur Machtpolitik, als sie im 20. Jahrhundert die Regel wurde. Seit 1918 sahen und sehen sich die Sieger – als die moralisch Überlegenen – berechtigt, die Besiegten auszurauben und zu demütigen. Wie sagte Winston Churchill geradezu prophetisch in einer Parlamentsrede im Jahre 1901:
„Die Demokratie ist rachsüchtiger als die Kabinettspolitik, die Kriege der Nationen sind schrecklicher als die der Könige.“ (5, S. 37).
Kam Churchill zu dieser Erkenntnis durch eine Analyse des grausamsten der Kriege des 19. Jahrhunderts nach dem Sturz Napoleons, dem amerikanischen Bürgerkrieg? (Vgl. „Die Sklaverei endete, der Rassismus blieb“ in „Kurz, knapp, kurios“ Seite 446)

Die Nachwirkungen der Erfolge Bismarcks

Bismarck war ein Machtpolitiker, dessen überragende außenpolitische Erfolge das Bewusstsein der Deutschen veränderte. Das Deutsche Kaiserreich entstand nicht von unten, mit demokratischen Mitteln, also durch des Volkes Wille, sondern als Obrigkeitsstaat mit strukturellen Schwächen.

Gegen Ende seiner Reichstagsrede am 6. Februar 1888 sprach Bismarck über eine drohende Haltung Russlands:
„Wir können durch Liebe und Wohlwollen leicht bestochen werden  – vielleicht zu leicht  –  aber durch Drohungen gewiss nicht.
Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst Nichts in der Welt, und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen lässt.“
Den ersten Teil des Satzes „Wir Deutsche fürchten…“, den Bismarck bald bedauert hat, kennt fast jeder. Der dann folgende Teil „und die Gottesfurcht…“ wird in vielen Zitaten unterschlagen, um Bismarck als Provokateur und Kriegstreiber herauszustellen.
(Zitiert nach Büchmann, „Geflügelte Worte“, Berlin, 1964).

Für einen Machtpolitiker – also für fast alle Diplomaten des 19. Jahrhunderts – mussten die ethischen und kulturellen Ziele von Philosophen der Aufklärung wie Kant, Fichte und Hegel zurücktreten gegenüber einer staatlichen Interessens- und Machtpolitik, wie sie von so gut wie allen Staaten seit Jahrhunderten praktiziert wurde.

Sozialistische Ideen waren Feindbilder für das Bürgertum. In Deutschland ließ sich das Volk  zum größten Teil von Bismarcks‘ Erfolgskurs blenden und bekam zu allem Unglück noch einen großmannssüchtigen Kaiser Wilhelm II., der rivalisierende Mächte provozierte.

Der bekannte Historiker Theodor Mommsen (1817-1903) hatte vergeblich seine mahnende Stimme erhoben:
„Die Gewinne an Macht waren Werte, die beim nächsten Sturm der Weltgeschichte wieder verloren gehen; aber die Knechtung der deutschen Persönlichkeit, des deutschen Geistes, war ein Verhängnis, das nicht mehr gut gemacht werden kann.“ (4, S. 326).
Solche Warnungen gingen im Hurrahgeschrei einer Presse unter, die es schon damals vorzog, der Mehrheit nach dem Mund zu reden, anstatt unangenehme Wahrheiten auszusprechen.

Die Behauptung, dass das von Bismarck gegründete Deutsche Reich aufgrund seiner Konstruktionsfehler – z. B. Demokratiedefizite und Zersplitterung in Einzelstaaten – nicht dauern konnte, teile ich nicht unbedingt. Ebenso wenig die These vom Preußisch-deutschen Kaiserreich als Vorläufer von Hitlers Zentralstaat.

Mit einigem Weitblick von Seiten der Nachfolger Bismarcks, mehr Verständnis für die Probleme der Zeit und die Anliegen anderer Mächte, war eine harmonischere Weiterentwicklung durchaus möglich.

Der Erste Weltkrieg – die Grundkatastrophe des 20. Jahrhunderts –, der katastrophale Zusammenbruch von drei Kaiserreichen und einem Sultanat, wären zu verhindern gewesen.

Die beiden Weltkriege mit ihren Leiden, und die dadurch ausgelösten Unstabilitäten, die bis heute nachwirken, waren die Folgen menschlicher Fehlleistungen der Herrscher und der Politiker der Großmächte, keine unvermeidlichen Naturereignisse.

Bismarcks Leistung aus heutiger Sicht

Bismarck war der überragende Staatsmann seiner Zeit. Nicht selten wird er als der einzige, wirklich große deutsche Diplomat bezeichnet. Mit raffinierter, längerfristiger Planung wusste er seine Ziele äußerst trickreich zu verfolgen. Dabei gelang es ihm, den eigenen König zu überreden und in- und ausländische Gegenspieler zu übertölpeln. Das von ihm geschaffene Kaiserreich war am Ende des 19. Jahrhunderts einer der modernsten und erfolgreichsten Staaten (1). Durch den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Deutschlands verschoben sich die Mächte-Gleichgewichte. Europa wurde instabiler.

Bismarcks politisches Konstrukt des Kaiserreiches erwies sich dann als zu kompliziert für seine Nachfolger, die weder über seinen Weitblick, noch über sein diplomatisches Geschick verfügten, noch die komplizierte Lage des Deutschen Reiches, inmitten eifersüchtiger und misstrauischer Staaten, richtig erkannten.

Die Erfolge der deutschen Wirtschaft erregten Neid bei mächtigen Konkurrenten, und das ungeschickte, säbelrasselnde Auftreten das Kaisers Wilhelm II. trug zur politischen Isolierung Deutschlands bei.

So ist es heute schwer, Bismarck gerecht zu werden. Die Urteile über ihn schwanken zwischen totaler Ablehnung und höchster Anerkennung. Sie berücksichtigen manchmal zu wenig, dass er ein Kind seiner Zeit war, und gerechterweise nicht ausschließlich nach den Maßstäben des 21. Jahrhunderts zu messen ist.
Seine Stärke war die Außenpolitik; innenpolitisch hatte er Defizite. Zu beanstanden ist aus heutiger Sicht (wie gesagt, nicht unbedingt aus der des 19. Jahrhunderts), dass er vor Kriegen nicht zurückschreckte, dass er nicht Demokrat sondern Monarchist war, soziale Probleme vernachlässigte (immerhin führte er die weltweit erste Sozialversicherung ein), einen übertriebenen Nationalismus duldete, der Diskriminierung von Minderheiten nicht entschieden entgegentrat, sich in einen Kulturkampf mit der Katholischen Kirche verstrickte und die Bedeutung der Arbeiterbewegung nicht erkannte. Für ihn spricht, dass er kein Kolonialist war und dem Wunsch nach der Gründung deutscher Kolonien nur halbherzig nachgab, unter starkem Druck der Öffentlichkeit und des Kaisers.

Den hochgelobten Nikolsburger Vorfrieden jedoch erzwang hauptsächlich die Cholera, weniger war es politische Rücksichtnahme auf den geschlagenen Gegner. Als Bismarcks historische Tat gilt die von ihm geschaffene staatliche Einheit Deutschlands, die trotz großer Verluste in zwei Weltkriegen noch besteht.

Literatur:
(1) Bödecker Erhardt, Preußen, Olzog, München, 2004.
(2) Craig Gordon A., Königgrätz, Paul Zsolnay, Wien, 1966.
(3) Engelberg Ernst, Bismarck, Siedler, Berlin, 1985.
(4) Gagliardi Ernst, Bismarcks Entlassung Band 2, Mohr, Tübingen, 1941.
(5) Hughes Emrys, Churchill, 2. Auflage, Arndt, Kiel, 1986.
(6) Mann Golo, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Fischer, Frankfurt, 1958.
(7) Sethe Paul, Deutsche Geschichte im letzten Jahrhundert, Heinrich Scheffler, Frankfurt, 1960.
(8) Winkle Stefan, Geißeln der Menschheit, Artemis und Winkler, Zürich, 1997.

Endnoten:
[1] Wiener Kongress = die Versammlung der europäischen Fürsten und Staatsmänner 1814/15, die über die Umgestaltung Europas nach den Napoleonischen Kriegen entschied. Den Vorsitz führte der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich.
[2] Nach der Märzrevolution von 1848 trat die erste demokratisch gewählte Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Dieses Vorparlament wollte alle Mitglieder des Deutschen Bundes zu einem Deutschen Reich vereinen. Diese „großdeutsche Lösung“ scheiterte am Widerstand Österreichs. Auch eine „kleindeutsche Lösung“, ohne die deutschsprachigen Länder Österreich-Ungarns, war nicht durchsetzbar. Im Mai 1849 schlugen Aufstände fehl, die eine in Frankfurt beschlossene Reichsverfassung erzwingen wollten. Das erste gesamtdeutsche Parlament, die „Wiege der deutschen Demokratie“, war gescheitert.
[3] Der Deutsche Bund wurde als Ergebnis des Wiener Kongresses im Jahr 1815 als Staatenbund von 39 überwiegend deutschsprachigen Ländern gegründet, darunter 35 Fürstentümer und 4 freie Städte. Die wichtigsten Mitglieder waren Österreich und Preußen. Nach dem Krieg von 1866 musste Österreich der Auflösung des Deutschen Bundes zustimmen und auf seinen Einfluss in Deutschland verzichten.
[4] In Preußen wurde der Ort der Schlacht nach der nahegelegenen Feste Königgrätz benannt, in Frankreich nach dem Dorf Sodowa.
[5] Nach dem Krieg von 1866 annektierte Preußen einen großen Teil der Gebiete nördlich des Mains. Nun entstand der Norddeutsche Bund mit 22 Mitgliedern und fast 30 Millionen Einwohnern. Die Süddeutschen Staaten blieben außerhalb des Norddeutschen Bundes, verbündeten sich aber 1870 mit diesem gegen Frankreich.