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Buch- und Filmbesprechungen

Keine Posaunen vor Jericho

von Israel Finkelstein und Neil Asher Silberman,
C. H. Beck Verlag, München, 2003.

Veröffnetlicht in GralsWelt 52/2009

In der GralsWelt haben wir uns immer wieder mit der Bibel beschäftigt, dem einflussreichsten Buch, nicht nur der abendländischen Geschichte, sondern der Weltgeschichte. Dabei mussten wir uns mit der Tatsache vertraut machen, dass historisch haltbare Belege für die biblischen Erzählungen dünn gesät sind. In der Bibel darf man daher keine korrekte Geschichtsschreibung erwarten, sondern muss sie als geistiges Buch verstehen, das zur Verdeutlichung religiöser Lehren Beispiele aus der Vergangenheit heranzieht, die mal mehr mal weniger sagenhaft sind.

In „Keine Posaunen vor Jericho“ wird aus archäologischer Sicht untersucht, in wie weit die biblischen Erzählungen, historisch gesehen, zutreffen. Da die Bibel-Archäologie in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat, sehen sich die beiden Verfasser in der Lage, die wichtigsten Etappen der alttestamentarischen Geschichte entweder durch Funde zu belegen, oder aber zu zeigen, da sich die geschilderten Ereignisse mehr in der Phantasie der biblischen Autoren als in der Wirklichkeit zugetragen haben.
Finkelsteins und Silbermans Beurteilung der Bibel aus archäologischer Sicht wird manche Bibelleser erstaunen:

„Die Geschichtsdarstellung, die in der Bibel steht – von Abrahams Begegnung mit Gott und seiner Wanderung nach Kanaan über Moses Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei bis zum Aufstieg und Niedergang der Königreiche Israel und Juda -, ist keine wunderbare Offenbarung, sondern ein herausragendes Ergebnis der menschlichen Einbildungskraft. Sie wurde – wie die jüngsten archäologischen Funde schließen lassen – in einem Zeitraum von zwei oder drei Generationen vor beinahe 2600 Jahren entworfen. Entstehungsort war das Königreich Juda, eine hauptsächlich von Schafhirten und Bauern dünn besiedelte Gegend, regiert von einer abgelegenen Königsstadt aus, die inmitten des Berglandes gefährdet auf einem schmalen Kamm inmitten steiler, felsiger Abgründe thronte.“ (Seite 12).

Bei aller Unsicherheit über die die historische Zuverlässigkeit der Bibel, bleibt diese doch der Ausdruck eines zeitlosen, inneren Erlebens. Mit anrührender menschlicher Leidenschaft und tiefer Religiosität entwarfen die patriotischen Bibelautoren, die in einer schwierigen Epoche um das Überleben ihrer Gemeinschaft bangen mussten, bleibende Bilder menschlichen Strebens, die bis heute faszinieren:

„Aber die Integrität der Bibel, ja, sogar ihre Historizität, hängt nicht von historischen ‚Beweisen‘ für einzelne Ereignisse oder Gestalten ab, sei es die Teilung des Roten Meeres, seien es die Posaunen, die die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten, oder sei es Davids Sieg über Goliath mit einem einzigen Stein aus seiner Schleuder. Die biblische Saga bezieht ihre Kraft daraus, dass sie fesselnd und in sich stimmig von zeitlosen Themen wie der Befreiung eines Volkes, seinem anhaltenden Widerstand gegen Unterdrückung und seiner Suche nach sozialer Gleichheit erzählt. Sie drückt beredt das tief verwurzelte Gefühl von gemeinsamer Herkunft, kollektiven Erfahrungen und geteiltem Schicksal aus, die jede menschliche Gemeinschaft zum Überleben braucht.
In historischen Begriffen ausgedrückt, weiß man heute, dass die epische Saga in der Bibel als eine Antwort auf Not, Schwierigkeiten, Herausforderungen und Hoffnungen entstand, denen sich das Volk des winzigen Königreichs Juda in den Jahrzehnten vor seiner Zerstörung sowie die noch winzigere Tempelgemeinschaft in Jerusalem in der nachexilischen Zeit gegenübersahen. Der größte Beitrag der Archäologie könnte darin liegen, dass sie begreifbar macht, wie ausgerechnet eine so kleine, relativ arme und entlegene Gesellschaft wie die Judas in der späteren Königszeit und die des nachexilischen Jehud dieses bleibende Epos in seinen Hauptumrissen innerhalb einer so kurzen Zeitspanne hervorzubringen vermochte. Solch ein Verständnis ist entscheidend, denn nur wenn man erkennt, wann und warum die in der Bibel beschriebenen Ideen, Bilder und Ereignisse so geschickt zusammengefügt wurden, beginnt man auch das wahre Genie und die anhaltende Kraft dieser einmaligen, einflussreichsten literarischen und geistigen Schöpfung der Menschheitsgeschichte zu ermessen“. (Seite 339)

Folgt man den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen, so muss man sich von dem in christlichen Gemeinschaften verbreiteten Glauben verabschieden, die Bibel sei „Gottes Wort“, sie sei von A bis Z vom „Heiligen Geist“ inspiriert und damit unantastbar.

Auf mich wirkt diese Trennung von der „wörtlichen Wahrheit der Bibel“ befreiend:
Niemand muss mehr an den grausamen Rachegott der hebräischen Bibel glauben, der in der Geschichte so oft der Rechtfertigung von Untaten dienen musste. Das alttestamentarische Gräuelbild des eifersüchtigen Gottes lässt sich allenfalls aus dem archaischen Denken der Zeit verstehen. Es hat wenig gemein mit dem von Jesus verkündeten „Vater im Himmel“, von dem nur Gutes ausgeht und der verzeiht.
Auch die im Alten Testament verherrlichten Brutalitäten und Grausamkeiten gegen Andersdenkende oder Angehörige fremder Ethnien, die angeblich im Namen Jahwes (Jehovas) verbrochen oder gar von ihm angeordnet wurden, haben sich glücklicherweise zum größten Teil so nicht ereignet. Die Verfasser dieser Gräuelmärchen waren entweder politische Propagandisten, oder sie waren von religiöser Hybris befallen.