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Religionsgeschichte

Die Suche nach dem Paradies

(Veröffentlicht in GralsWelt 48/2008)

Die Bibel ist das meistgedruckte (und vermutlich auch meistgelesene) Buch der Weltliteratur, dessen Bedeutung für die jüdische und die christliche Religion grundlegend, und dessen Einfluss auf die Weltkultur nicht abschätzbar ist.

Nachdem die Bibel über lange Jahrhunderte im Abendland als unangreifbare Quelle der Wahrheit gegolten hatte, kamen vor allem seit der Aufklärung (vom 17. bis ins 19. Jahrhundert) Zweifel an der Verlässlichkeit ihrer Quellen. Daraufhin wurde es zu einem beliebten Spiel bibeltreuer Christen, z. B. unter dem Schlagwort „Und die Bibel hat doch recht“ (4), archäologische und historische Befunde zusammenzutragen, die beweisen sollen, wie präzise und historisch richtig die Autoren der Bibel berichtet hatten. Sind Ereignisse, Ortsangaben, Personennamen in der Bibel korrekt überliefert, so freuen sich die Bibelgläubigen. Zweifler kann man vielleicht beruhigen, indem auf die vielen akkuraten Angaben verwiesen wird. Aus dem bewiesenermaßen Zutreffenden wird dann gefolgert, dass auch der Rest ernst zu nehmen sei, für dessen Richtigkeit im Augenblick vielleicht nicht allzuviel spricht.

Allerdings kann es vorkommen, dass die Verfasser der Bibel zu genau berichten und gerade dadurch in den Verdacht geraten, sie hätten kein großes überirdisches Geschehen geschildert, sondern nur alte Menschheitserinnerungen tradiert, die dann in Unkenntnis der Tatsachen ins Transzendente erhoben wurden. Ein Beispiel wäre die Paradies-Erzählung (1. Mose, 2 und 3).

Das Paradies

Folgen wir den Lehren der Gralsbotschaft von Abd-ru-shin, dann sind wir Menschen einst unbewusst aus dem Paradies im Geistigen Reich ausgegangen, und das Ziel unserer Sehnsucht und unseres geistigen Strebens ist, als bewusster Menschengeist in dieses Paradies zurückzukehren.

Der Versuch, dieses geistige Paradies auf Erden zu finden, muss demzufolge scheitern. Trotzdem wird seit Jahrhunderten nach der Landschaft gefahndet, in der einst das längst verwehte biblische Paradies lag, und es gibt kaum einen Kontinent, auf dem es nicht schon vermutet wurde.

Nun enthält die Bibel die geographische Beschreibung einer Landschaft, die sich vielleicht finden lassen sollte:
„Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der eine heißt Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt….Der zweite Strom heißt Gihon….Der dritte Strom heißt Tigris….Der vierte Strom ist der Eufrat (1. Mose, 2,10-14).
Aber wo soll man die vier Flüsse suchen? Vermutlich im Osten von Palästina:
„Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an…“ (1. Mose, 2,8).
Zur genaueren Lokalisierung helfen weitere biblische Nachrichten. Legt man Hes. 28,14 großzügig aus, so gab es im Garten Eden einen „Heiligen Berg“, der möglicherweise vor kurzem gefunden wurde (6).
Außerdem ist vom Landbau die Rede:
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen.“ (1. Mose, 3, 19).
Brot ist die Grundnahrung der Sesshaften, nicht der Nomaden.
Auch eine sehr alte Auseinandersetzung wird geschildert, die sich in der Geschichte viele Male wiederholt hat: Der Streit des Bauern Kain mit dem Nomaden Abel (1. Mose, 4).

Darf man vermuten, dass von einer Zeit erzählt wird, als vor etwa 12 Jahrtausenden der Übergang vom Nomaden zum Bauern begann?

Der „Fruchtbare Halbmond“

Seit Jahrzehnten wird gelehrt, dass der Ackerbau im „Fruchtbaren Halbmond“, also in etwa zwischen Mittelmeer und Zagrosgebirge entwickelt wurde.

Wahrscheinlich führte eine Nahrungskrise zu einer der wichtigsten Erfindungen der Menschheit. Die Bevölkerung wuchs, das jagdbare Wild schwand dahin. Wer an Ort und Stelle überleben wollte, hatte oft keine andere Wahl, als Bauer zu werden. Dieser neue „Beruf“ war aus damaliger Sicht alles andere als erstrebenswert.

Nomadisierende Jäger und Sammler arbeiteten nur wenige Stunden am Tag, um sich zu ernähren und zu kleiden. Der Rest des Tages konnte für soziale Kontakte (Körperpflege, Gespräche, Tänze, Rituale) genutzt werden. Vermutlich verachteten die Nomaden die ersten Bauern und Städter, denen sie sich wegen ihrer Mobilität überlegen fühlten.

Die „moderne“ Alternative, das Sesshaftwerden, verlangte den Zwölf-Stunden-Tag des Bauern. Der Erfolg seiner Mühen war eine weniger abwechslungsreiche Ernährung, die obendrein noch durch Unwetter, Schädlinge, Pflanzenkrankheiten, Wildtiere und sogar durch Nomaden gefährdet war, die nichts dabei finden wollten, ihre Herden auf bebauten Feldern weiden zu lassen. Nicht überraschend, wenn Skelettfunde zeigen, dass die Nomaden[i] besser ernährt und größer gewachsen waren als die frühen Bauern.

Eine neue Lebensweise

In einer Generationen dauernden Übergangszeit änderte sich das Leben grundlegend. Der sesshafte Bauer musste Vorräte anlegen, und er beanspruchte Eigentum an Häusern, Werkzeugen, Vieh, Feldfrüchten, Grund und Boden. Um ihr Eigentum gegen Übergriffe (z. B. von Nomaden) zu schützen, gründeten die Bauern Siedlungen, die befestigt wurden. Mit den Siedlungen kamen Anführer, Reichtum und Macht. Später musste mancherorts bewässert werden; dazu war eine organisierte Zusammenarbeit in größerem Rahmen nötig. Nun kamen noch Herrscher, Kriege, Steuern, das Finanzamt, neue Krankheiten durch Parasiten die sich in den Bewässerungskanälen verbreiten konnten, und vermutlich auch schon Sklaverei. Alles Übel (oder zivilisatorische Errungenschaften), die sich bis heute erhalten haben. (Vgl. „Der gewalttätige Mensch – Opfer seiner Entwicklung?„)

Das „lustige Zigeunerleben“ der Nomaden war während langen, langen Zeitläufen das schönere Leben. Doch die Seshaften wurden mehr und mehr. Sie drängten die umherschweifenden, heimatlosen Horden in für den Ackerbau weniger geeignete Randgebiete ab, aus denen diese immer wieder als gefährliche Krieger oder gar Eroberer hervorbrachen.

Das biblische Paradies

Das grundlegend Neue, der Ackerbau mit allen seinen Folgen für das Leben der Menschen, begann im „Fruchtbaren Halbmond“, auf den die biblischen Beschreibungen nach neueren Annahmen der wissenschaftlichen Forschung überraschend gut zutreffen:
* Von Palästina aus gesehen liegt der „Fruchtbare Halbmond“ im Osten.
* Die vier Flüsse wären nach neuesten Hypothesen (5) Euphrat, Tigris, Kisil Usen (oder Sefid Rud) und Araks (oder Aras). Euphrat und Tigris kennt jeder. Der Araks mündet in den Kura und dieser endet im Kaspi. Die Quellgebiete dieser drei Flüsse liegen nahe beisammen im inneren Taurus. Der goldhaltige Kesil Usen entspringt östlich vom Urmiasee im Kurdistanischen Gebirge und fließt ebenfalls ins Kaspi.
* Der „Heilige Berg“ wäre der „Nabelberg“ Göbeli Tepe, mit der vielleicht ältesten der bekannten Kultstätten der Menschheit (6).
* Der Kampf zwischen Nomaden und Bauern hat wahrscheinlich hier, im „Fruchtbaren Halbmond“ begonnen.
* Urfa, der angebliche Geburtsort Abrahams, liegt in nächster Nähe des „Heiligen Berges“.

Wie kommen Erinnerungen an die Sesshaftwerdung in die Bibel?

Kaum ein Wissenschaftler geht heute noch davon aus, dass der Pentateuch[ii] von Moses geschrieben wurde, dessen historische Existenz ebenso wie der biblische Exodus (um 1250 v. Chr.) als fraglich gilt. Niedergeschrieben wurden die ersten Kapitel des Alten Testamentes vielleicht zur Zeit Salomons (961-931 v. Chr.), während oder nach der Babylonischen Gefangenschaft (568-538 v.Chr), oder erst im 2. vorchristlichen Jahrhundert. Zwischen dem Übergang vom Nomaden zum Bauern und dem schriftlichen Bericht der Bibel über dieses einschneidende Ereignis liegen also rund 9 Jahrtausende oder in etwa 300 Generationen.

Kann es so alte Menschheitserinnerungen geben?

Manche Forscher halten das für möglich. Sie sprechen von einem „kulturellen Gedächtnis“, das weit zurückreichen kann in die neolithische (jungsteinzeitliche) Vergangenheit.

Rechnet man mit mehreren, mit vielen Erdenleben des selben Menschengeistes, dann erscheint es nicht so überraschend, wenn hin und wieder, in dem einen oder anderen Menschen, Erinnerungen wach werden an eine längst verwehte Zeit, in der einschneidende Entwicklungen abliefen, die so gut wie alle Zivilisationen prägten. Solche Rückerinnerungen kamen auch in die Bibel; aus eigenem Erleben der Verfasser oder über altorientalische Schriften, wie dem Gilgamesch-Epos, das ja schon einige biblische Themen vorwegnimmt[iii].

Ein geistiges Buch oder die Mythologie der Juden?

Das Alte Testament ist eine Sammlung sehr vielseitiger Schriften. Ganz unterschiedliche Verfasser brachten zu verschiedensten Zeiten höchst verschiedenartige Traktate zu Papier: Aphorismen, Erotik, Folklore, göttliche Gesetze, Hexen, historische Chroniken, Krieg, kultische Vorschriften, Kündungen aus höchsten Welten, Landnahme, Liebesgedichte, liturgische Regeln, Lug und Trug, Mord und Totschlag, Prophezeiungen, Schöpfungsgeschichten, Sündenfall, Totenbeschwörung, Verrat, Visionen, Völkermord, Volkssagen, Wundertaten, Zauberei. Fast jeder kann in der Bibel finden, was er sucht.

Zweifellos sprechen manche Kapitel des Alten Testamentes von der jüdischen Geschichte, doch kaum mit den Ziel einer historisch korrekten Berichterstattung. Für ein geschichtliches Werk enthält die Bibel zu viele Ungenauigkeiten, unsichere oder gar fehlerhafte Überlieferungen und Anachronismen. In der Regel kann sie nicht als zuverlässige historische Quelle betrachtet werden.

Vielen Christen und Juden gilt die Bibel als geistiges Buch, als Offenbarung. Die historischen Berichte wären dann als gleichnishafte Belehrungen anzusehen, keineswegs als korrekte Geschichtsschreibung.

Hohes Geistiges im irdischen Gewand?

Die Vermittlung geistiger Werte mit dem Medium der irdischen Sprache ist ein Problem aller religiösen Bücher. Denn der Verstand soll ja nicht an der Schrift hängen bleiben, sondern der Mensch soll die tieferen Zusammenhänge intuitiv, empfindungsmäßig erfassen. Schriftliche Fassungen höherer Einsichten verwenden daher oft eine symbolhafte Sprache, die auch irdische Bilder zur Verdeutlichung benützt. Die zu vermittelnden Kündungen wenden sich an das Innere des Menschen und entziehen sich einer vordergründigen Deutung. Asiatische Weisheitslehrer versuchen dieses Ziel gelegentlich dadurch zu erreichen, dass sie widersprüchliche Aussagen neben einander stellen. Damit wollen sie den Verstand austricksen und direkt zum Empfinden durchdringen.

Auch die Bibel bringt immer wieder historische Beispiele, die zeigen sollen, welche schlimmen Folgen das Abweichen vom Gotteswillen für das Volk Israel in der Vergangenheit hatte. Die Verfasser dieser Überlieferungen wollten vor allem darlegen, wie konsequent religiöse Lehren – aus ihrer Sicht gleichbedeutend mit dem Willen Gottes – zu befolgen seien. Manche Weissagungen sind wohl nacheilende Prophetien[iv], also Vorhersagen, die ein Ereignis betreffen, das längst eingetreten ist. Das ist eine gar nicht so seltene Form der esoterischen oder religiösen Geschichtsinterpretation, die im Nachhinein genau erklären kann, warum ein Geschehen so und nicht anders ablaufen musste.

Gläubiger oder Skeptiker?

Wenn nun Bibel-Apologeten die Richtigkeit ihrer „Heiligen Schrift“ mit historischen Tatsachen beweisen wollen, reihen sie sich streng genommen – vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein – in die Reihe der Skeptiker ein: Denn wenn die Bibel ein geistiges Buch ist, sollte sie außerhalb jeder Art von irdischer Beweisführung stehen. Schon Jesus hat solchem Verlangen nach sichtbaren Beweisen, also Zeichen und Wundern, eine Abfuhr erteilt:
„Was sucht dieses Geschlecht Zeichen? Wahrlich ich sage euch: Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben“ (Mark. 8,12).

Wer also im Irdischen nach Beweisen für seinen transzendenten Glauben sucht, wird oft enttäuscht. Ein solcher Halbgläubiger wird leicht unsicher, und er gehört – zumindest aus streng religiöser Sicht – schon zu den Zweiflern; denn „selig sind, die nicht sehen und doch glauben“. (Joh. 20,29).

Ist echter, tief empfundener Glaube verlangt, so werden die in vielen Religionen eifrig geübten Exegesen[v] ebenso fraglich wie Dogmen oder konfessionelle Lehrmeinungen. Denn jeder wahre Glaube sollte auf einer sehr persönlichen, nicht übertragbaren, religiösen Erfahrung eines freien Menschen beruhen, die sich mit wissenschaftlichen Methoden nicht bewerten lässt: „Denn der Buchstabe tötet, doch der Geist macht lebendig“. (2. Kor. 3,6).

Literatur:
(1) Bronowski Jacob, Der Aufstieg des Menschen, Ullstein, Frankfurt 1976.
(2) Der Spiegel, 23/2006, vom 3. 6. 2006.
(3) Finkelstein Israel/Silberman Neil Asher, Keine Posaunen vor Jericho, C.H. Beck, München, 2002.
(4) Keller Werner, Und die Bibel hat doch recht, Econ, Düsseldorf, 1963.
(5) Rohl David, Legend. The Genesis of Civilisation, Random House, London, 2006.
(6) Schmidt Klaus, Sie bauten die ersten Tempel, C.H. Beck, München, 2006.
Endnoten:
[i] Hier wird nicht zwischen Nomaden und Wildbeutern (Jäger und Sammler) unterschieden, wie das Historiker für nötig erachten.
[ii] Pentateuch = die fünf Bücher Mose.
[iii] Vgl. „Die Suche nach der Unsterblichkeit“.
[iv] Religionswissenschaftler sprechen von „vaticinia ex eventu“ = nachträgliche Weissagung. Sie sehen etliche biblische Prophetien als „nachträgliche Vorhersagen“ an.
[v] Exegesen = Auslegungen der Bibel und anderer religiöser Schriften. Vgl. Dazu „Philon von Alexandria und die Suche nach dem Sinn“.