Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war
(Veröffentlicht in Gralswelt 76/2013)
Von Gabor Steingart,
Piper, München 2012, ISBN 978-3-492-27489-0, 182 Seiten.
Haben sich die Politik, die Wirtschaft, die Umwelt, das Leben, die Welt schon jemals schneller verändert als in den letzten Jahrzehnten?
Heute erst wird uns so recht bewusst, dass die Jahre des sogenannten Kalten Krieges eine stabile, geradezu „friedliche“ Zeit waren, zumindest für Europa. Zwar standen sich zwei feindliche Lager drohend gegenüber, doch Kernwaffen erzwangen ein militärisches Patt. Als sich aber die Feindbilder auflösten, und der Weltfriede greifbarer schien als je zuvor, wurde die Welt keineswegs friedlicher, sondern sie wurde komplizierter und unübersichtlicher. Plötzlich scheint alles im Wandel, alles wird anders, als es war. Hier einige Stichwörter dazu:
Arbeitswelt (Outsourcing und Teilzeitarbeit), Demokratieverständnis, Familienbild (Alleinerziehende und Patchwork-Familie), Hochfinanz, Medien, Moralvorstellungen, Religiöse Ethik, Soziale Sicherheit, Staatsvertrauen, Verteidigung („Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“[i]), Weltmarkt, Wirtschaftsweise, zwischenmenschliche Beziehungen. Man hat es schwer, sich an das uns geradezu überschwemmende Neue zu gewöhnen, mit dem schnellen Paradigmenwechsel mitzuhalten, und neue ethische Maßstäbe zu finden, nachdem die alten verloren gingen…
Gabor Steingart skizziert diese moderne „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche), den Verlust des Gewohnten, den Untergang von Selbstverständlichkeiten, in seinem gut lesbaren Buch in einer Reihe von pfiffigen Essays, die den Kern der verwirrenden Vorgänge für jedermann in verständlicher Form herausarbeiten. Wer am Zeitgeschehen interessiert, manchmal davon vielleicht auch verunsichert oder verwirrt ist, sollte dieses fesselnde Buch unbedingt lesen.
Wohin uns der Strom der Geschichte treibt, kann auch Steingart nicht sagen, doch findet er im Abschluss seiner Schrift einen hoffnungsvollen Ausblick:
„Wenn keine Macht in uns wirkt, sind wir leer. Das Abschalten aller bisherigen Kraftquellen beschert dem Menschen zwar ein freieres, aber noch kein besseres Leben….
An das Individuum stellt die neue Zeit damit hohe und höchste, womöglich sogar heroische Anforderungen. Selbstbefragung tritt an die Stelle von Selbstbefriedigung und Selbstbedienung. Selbstbeherrschung ist von allen Herrschaftsformen die schwierigste. Das Ende der Normalität bedeutet eben nicht das Ende der Geschichte, sondern den Beginn einen neuen Zeit. Es wird keine leichte Zeit sein. Aber es könnte unsere glücklichste werden.“
Endnote:
[i] Verteidigungsminister Peter Struck im Mai 2003: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“.