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Religionsgeschichte

Philon von Alexandria und die Suche nach dem Sinn

(Veröffentlicht in GralsWelt 61/2010)

Etwa zur gleichen Zeit wie Jesus lebte in Alexandria ein jüdischer Theologe und Philosoph, dessen Werke für das Christentum große Bedeutung erlangten, während sie auf die Entwicklung des Judentums von geringem Einfluss blieben: Philon von Alexandria (ca. 13 v. Chr. – 50 n. Chr.), der vom Leben und Wirken Jesu nichts erfuhr.

Philon lebte in der Zeit des Hellenismus, als nach dem Tod Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) Griechisch die Weltsprache, und im Mittelmeerraum jeder Gebildete mit der Griechischen Philosophie vertraut war. Um Nichtjuden die jüdischen Weisheitslehren nahe zu bringen, wollte Philon das jüdische Religionsverständnis mit der griechischen Philosophie verbinden.

Die Septuaginta

Der erste Versuch, die Bücher des Alten Testaments nicht hebräisch sprechenden Menschen zugänglich zu machen, war eine Übersetzung ins Griechische. Diese entstand auf Anregung des ägyptischen Königs Ptolemäus II. Philadelphos (283 – 246 v. Chr.). Der Überlieferung nach waren in Alexandria 72 Gelehrte 72 Tage mit einer Übersetzung der hebräischen Bibel beschäftigt, daher der Name „Septuaginta“ (lat. siebzig). Dieser griechische Text des Alten Testamentes war zunächst für griechisch sprechende Juden in Ägypten bestimmt; später wurde diese alexandrinische Übersetzung auch Teil der Bibel der ersten Heiden-Christen[i].

Bei keiner Übersetzung lassen sich Auslegungen des Originaltextes vermeiden. Auch die Septuaginta verlangte Interpretationen und Anpassungen an die griechische Sprachwelt, und mit ihr begann die Auslegung des Alten Testamentes auch für Heiden (Nichtjuden), an die Philon anknüpfen konnte.

Eine Verbindung von Philosophie, Mystik und Religion

Der fromme, jüdisch-hellenistische Philosoph Philon ging in seinem Bemühen, die alten Lehren verständlicher zu machen, einen neuen Weg: Griechische Philosophie (insbesondere platonische und pythagoreische Ideen), hellenistische Mystik und jüdischer Glaube sollten sich zu einem umfassenden philosophisch-religiösem System verbinden.

Philon ging dazu von einem doppelten Schriftsinn aus: Der wörtliche Sinn ist das berechtigte Verständnis des Textes für die Vielen. Darüber hinaus können die Wenigen den hintergründigen philosophischen Sinn begreifen. Eine allegorische Deutung erlaubt dem tiefer Eingedrungenen nicht nur Standardprobleme wie Anthropomorphismen[ii] zu überwinden. Man kann vielmehr in der Thora[iii] die Struktur der Welt und in ihren Geboten das der Welt zugrundeliegende Naturgesetz erkennen.

Exegesen (Bibelauslegungen)

Philons allegorisch-mystische Bibeldeutung hat christliche Kirchenväter beeinflusst. Seine Idee der doppelten Schriftauslegung, der wörtlichen und der allegorischen, wirkt weiter bis heute. In der spätantiken und der mittelalterlichen Kirche wurde daraus durch Johannes Cassianus (ca. 360 – 430) die Lehre vom vierfachen Schriftsinn:

Über dem wörtlich-historischen Sinn erhebt sich (in Anlehnung an die Paulinische Dreiheit Glaube – Liebe – Hoffnung[iv]) ein dreifacher geistlicher Sinn: Ein allegorischer (dogmatischer), tropologischer (moralischer) und anagogischer (eschatologischer)[v].

So bedeutet z. B. Jerusalem historisch gesehen eine Stadt der Juden, allegorisch die Kirche, tropologisch die menschliche Seele und anagogisch die himmlische Gottesstadt. Auf diese Weise können Aussagen der Heiligen Schrift in vielfältiger Form auf aktuelle Situationen der Kirche, des Staates oder des Einzelnen bezogen werden.

Die Suche nach dem Sinn

Mit Philon begann eine neue Form des Verständnisses der Bibel (und anderer religiöser Schriften, z. B. auch des Koran).

Die Lösung vom direkten Wortlaut und die Suche nach dem tieferen Sinn hat in allen Buchreligionen zu unzähligen Betrachtungsweisen, zahllosen Interpretationen, endlosen Diskussionen, Uneinigkeit und Spaltungen geführt. Denn je nach dem eigenen Standpunkt lässt sich jede beliebige Schriftstelle so oder so interpretieren; und wer kann entscheiden, welche Auffassung die zutreffende ist? Die Priester, die sich oft selbst uneins sind? Die Bischöfe? Der Papst?

Für jede Situation, jede Lebenslage lassen sich Zitate finden, deren z. B. allegorische Deutungen Antworten auf Lebensfragen liefern. Doch sind diese Antworten zutreffend und hilfreich? Können religiöse Bücher alle Fragen beantworten und das für alle Zeit?

„Den meisten Religionen der Weltgeschichte eignet ein bösartiger Anspruch auf Ausschließlichkeit, so auch dem Islam und dem Christentum. Beide haben heilige Bücher zur Grundlage. Weil Bibel und Koran aber auslegungsbedürftig sind, haben beide Weltreligionen eine weitläufige, zum Teil durchaus kontroverse theologische Wissenschaft entfaltet. Auf beiden Seiten wachen die Schriftgelehrten über die Bewahrung ihres Glaubens; auf beiden Seiten bedienen sie sich einer besonderen theologischen Sprache. Aber dass einer die Bücher des anderen liest, kommt höchst selten vor; statt dessen tragen viele Schriftgelehrte auf beiden Seiten eifrig zur gegenseitigen Feindschaft bei.“ (3, S. 165).

Bis heute dienen die durch Philon angeregten Auslegungen religiöser Schriften – fast wie einst im Mittelalter – auch zur Untermauerung von Herrschaftsansprüchen und sind damit auch von politischer Relevanz:

Hier scheiden sich die Skeptiker von den Gläubigen, die Realisten von den Fundamentalisten:
Wer in der Bibel das unantastbare Wort Gottes sehen will, oder den Koran für das „unerschaffene Wort Allahs“ hält, für den gibt es keinen Zweifel, dass diese Kündungen allgemeingültige, unantastbare, ewige Wahrheiten enthalten.

Wer sich nicht am Wortlaut streng orientiert, kann Widersprüche durch Auslegungen zur Übereinstimmung bringen; es kommt ja weniger auf den „vordergründigen“, allgemein verständlichen Text an, als vielmehr darauf, in das Wort einzudringen, und seine tieferen, in Allegorien verborgenen Schichten freizulegen.

Damit wird das religiöse Verständnis sehr persönlich, vom Bildungs- und Wissenstand geprägt, von mystischen Neigungen durchdrungen, voller Ansichten, Mutmaßungen und Darlegungen, die nur einem speziellen Kreis verständlich sind, der die Hintergründe der Auslegungen kennt und anerkennt. Es wird esoterisch. Zuletzt sind nur Spezialisten (Priester) in der Lage die hintergründigen Auslegungen nachzuvollziehen.

Außenstehende und theologisch ungeschulte Gläubige können den oft komplizierten, manchmal verworrenen Interpretationen nicht folgen, und Skeptikern erscheinen manche Darlegungen als unbegründbare, gar widersinnige Behauptungen. Sie stellen in der Folge Religion und Religiosität als solche in Frage, und „schütten das Kind mit dem Bade aus“, um eine Allegorie zu benutzen .

Was ist Wahrheit?

Damit stehen wir vor religiösen Grundfragen, die in den Konfessionen üblicherweise nicht gestellt werden:

  • Wodurch ist die Grundlage der jeweiligen Lehre – z. B. ein „Heiliges Buch“ wie die Bibel oder der Koran – legitimiert?
  • Wie ist die jeweilige „Heilige Schrift“ zu verstehen? Ist wörtliche Aufnahme der rechte Erkenntnisweg, oder führen erst allegorische oder noch kompliziertere Interpretationen zum Verstehen? Das Wörtliche, Direkte ist oft unbequem; z. B. wenn es nicht zur herrschenden Theologie oder zum Zeitgeist passt. Dann ist man geneigt, dem Zeitgeschmack entsprechende Auslegungen zu konstruieren.
  • Ist es reine Glaubenssache, vielleicht nur Gewohnheit, ob man sich für eine bestimmte Religion entscheidet, oder gibt es zuverlässige Kriterien für die Wahrheitsfindung? Zum Beispiel die eigene Empfindung, übersinnliche Wahrnehmungen, oder Visionen?
  • In vielen Religion gibt es neben den – mehr oder weniger zuverlässig tradierten – „Heiligen Schriften“ noch weitere Überlieferungen. Z. B. im Judentum den Talmud[vi]; im Christentum die Schriften der Kirchenväter, Konzilsbeschlüsse, päpstliche Enzykliken; im Islam die Sunna[vii] usw. Wie sind diese Überlieferungen einzuordnen?
  • Welche Bedeutung haben religiöse Rituale? Sind sie nur Folklore? Oder kommt in ihnen die Transzendenz in symbolhafter Form zum Ausdruck, und eröffnen sie dadurch die Möglichkeit zu innerem Erleben, zur religiösen Erfahrung zu gelangen?

Allgemeingültige Antworten kann es auf darauf nicht geben, und jeder Einzelne muss seine persönliche Einstellung dazu finden.

Damit ist jeder ernsthaft Suchende auf seine eigene Gewissensentscheidung zurückgeworfen, die ihm niemand abnehmen kann. Denn ein Mensch hat großen geistigen Freiraum, den er nutzen soll, aber nicht missbrauchen darf. Ein jeder ist für seinen irdischen und geistigen Lebensweg selbst verantwortlich. Fehlentscheidungen oder gar Verbrechen lassen sich nicht durch Heilige Schriften, religiöse Lehren, Ansichten von Autoritäten, staatliche Gesetze oder die Binnenmoral einer Gruppe entschuldigen.

In den meisten Konfessionen sind derartige Ansichten höchst unbeliebt: Denn diese entwerten das Monopol der Priesterschaft in Moral- und Glaubensfragen, untergraben Autorität und Herrschaftsanspruch von leitenden Personen in Kirchen und sonstigen Glaubensgemeinschaften.

Dieser Zwiespalt zwischen Konfessionen und selbständig denkenden und empfindenden Menschen ist vermutlich so alt wie die Religion selbst, und er wird sich auf Erden wohl immer wieder einstellen.

Literatur:
(1) Benz Otto u. a., Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003.
(2) Farados Georgius D., Kosmos und Logos nach Philon von Alexandria, Edition Rodopi, Amsterdam 1976.
(3) Schmidt Helmut, Die Mächte der Zukunft, Siedler, München 2004.
(4) Volpi Franco, Großes Werklexikon der Philosophie Bd. 2, Alfred Kröner, Stuttgart 1999.
(5) http://www.demetrius-degen.homepage.t-online.de/denker/phi100.htm#Philon.
(6) http://www.qumran.org/js/Talm-FAQ/Talm_FAQ.htm.
(7) http://www.wikipedia.org/wiki/Philo_von_Alexandria.
Endnoten:
[i] Die Jerusalemer Ur-Gemeinde bestand aus den ersten Anhängern Jesu, die Aramäisch und Hebräisch sprachen. Die griechischsprachingen Heiden-Christen um Paulus konnten dagegen das Alte Testament meist nicht im hebräischen Original-Text lesen.
[ii] Anthropomorphismus = die Übertragung menschlicher Verhaltensweisen auf Außermenschliches, z. B. Götter.
[iii] Thora (hebr. „Lehre“) = die fünf Bücher Moses (der Pentateuch), das Kernstück der jüdischen Religion.
[iv] 1. Kor. 13, 13.
[v] Allegorische Deutung (Allegorese) = Betrachtung eines Textes, die ihn als verhüllende Darstellung eines geistigen Sinnes auffasst.
Anagogisch = auf das kommende Reich Gottes bezogen.
Dogmatisch = den Lehrsätzen der Kirche entsprechend.
Eschatologie = Lehre von den letzten Ereignissen, z. B. von der Wiederkunft Christi.
Tropologische Auslegung der Schrift = Worte oder Handlungen werden nicht körperlich und natürlich ausgelegt, sondern sittlich, in dem Sinne, dass sie einen moralischen Lebenswandel fördern.
[vi] Talmud = das nachbiblische Hauptwerk des Judentums, eine Sammlung der zunächst nur mündlich überlieferten religiösen Gesetze.
[vii] Sunna = die Überlieferungen über Leben, Wirken und Aussprüche des Propheten Mohammed, die in Hadithen gesammelt wurden. Es gibt viele Tausend solcher Hadithe.