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Religionsgeschichte

Der Christuskelch und die Suche nach dem Gral

(Veröffentlich in GralsWelt 20/2001)
Wurde die sagenhafte Schale des Abendmahls nun wirklich gefunden?

In der Gralsbotschaft von Abd-ru-shin ist dargelegt, dass der lebensspendende „Heilige Gral“ nicht im Irdischen, sondern in höchsten geistigen Höhen zu finden ist. Aus dem Text lässt sich jedoch – siehe Zitat-Kasten – auch herauslesen, dass neben diesem eigentlichen Gral auch das Abendmahls-Gefäß als „heilige Erinnerung an das hohe Erlöserwerk des Gottessohnes“ tatsächlich existiert. Dieses Gefäß wollen Forscher nun entdeckt haben. 

Mit mythischen Überlieferungen hat es eine eigene Bewandtnis. Lange Zeit galten Mythen und Sagen als Phantasieprodukte, nach deren Wahrheitsgehalt man gar nicht erst zu suchen brauche. Dann nahm Heinrich Schliemann (1822-1890) die Ilias beim Wort und entdeckte das bislang in das Reich der Phantasie verwiesene Troja. Seither gibt es eine umfangreiche Mythenforschung, die immer wieder zu überraschenden Resultaten führt. So konnte z. B. Heinz Ritter-Schaumburg (1902-1999) als Ursprung des Nibelungenliedes ein reales Geschehen ausfindig machen, das später in der dichterischen Verklärung der Sänger dramatisiert und zu einem weltpolitischen Ereignis überhöht wurde.

„Auch ist unter dem Heiligen Gral nicht das Gefäß gemeint, das der Gottessohn am Ende seiner irdischen Mission bei dem letzten Mahle mit seinen Jüngern benützte, worin dann sein Blut am Kreuze aufgefangen wurde. Dieses Gefäß ist eine heilige Erinnerung an das hohe Erlöserwerk des Gottessohnes, aber es ist nicht der Heilige Gral, den zu besingen die Dichter der Legenden begnadet wurden.“                        Abd-ru-shin

Eine in unterschiedlichen Formen überlieferte Sage widersetzte sich jedoch lange allen Erklärungsversuchen. Sie war von so vielem mystischen Beiwerk umrankt, dass jeder Betrachter davon ausgehen musste, dass kein irdisches Ereignis dafür Pate gestanden haben konnte: Parzival und die Suche nach dem Gral.

Der Mythos vom heiligen Gefäß

Der Mythos von einem heiligen, segenspendenden Gefäß ist alt, sehr alt. In der keltischen Mythologie ein Zauberkessel, in altorientalischen Quellen oder christlichen Apokryphen das unerschöpfliche Füllhorn. An der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert entstanden Ritterromane, welche Überlieferungen vom segenspendenden Heiligen Gral mit dem Sagenkreis um König Arthur verbinden, dem britannischen Märchenkönig des 5. Jahrhunderts. Keltische Sagen aus der Druidenzeit wurden mit christlichen Ideen verflochten. Dieses 12. Jahrhundert brachte eine Zeit des Umbruchs. Die Kreuzzüge waren gescheitert, Jerusalem unwiederbringlich verloren. In Südfrankreich fühlte sich die vielfach entartete Kirche von den vorbildlich lebenden Katharern bedroht, und die Ritterschaft brauchte ein neues Ideal, das vielleicht die „Suche nach dem Gral“ aufzeigen wollte.

Die wichtigsten Gralserzählungen beschreiben den Gral in verschiedener Weise:

1. Chrétien de Troyes (vor 1150- (ca.) 1190): Sein um 1190 entstandener „Perceval“ schildert den Gral als eine Schale aus reinem Gold, die mit Edelsteinen besetzt ist und zur Aufbewahrung der Hostie dient.

2. Wolfram von Eschenbach (um 1170-1220): Er beschreibt in seinem „Parzival“ den Gral als einen Stein von wundersamer Kraft.

3. Robert de Boron: In Roberts „Joseph von Arimathia“ (um 1200) ist der Gral der Kelch, welchen Jesus beim letzten Abendmahl benutzte, und in dem dann sein Blut am Kreuze aufgefangen wurde. In späterer Zeit wird diese kostbarste Reliquie der Christenheit vom „Fischerkönig“ gehütet.

 Der Abendmahlskelch

Die Vorstellung, dass tatsächlich der Kelch erhalten sei, den Jesus bei seinem Abschiedsmahl benutzte, hat zu vielen Spekulationen Anlass gegeben. In „Kurz, knapp, kurios“ Seite 416 haben wir unter der Überschrift „Die geheinisvollste aller Reliquien“ über das „Turiner Bahrtuch“ berichtet, und bei dieser Gelegenheit auch über die Auswüchse der Reliquienverehrung gesprochen. Demnach scheint es unwahrscheinlich, dass neben dem Leichentuch Jesu auch noch der Abendmahlskelch alle Wirren von zwei Jahrtausenden überstehen konnte.

Die gängigste der frommen Legenden erzählt, dass Josef von Arimathia den Abendmahlskelch zur Verfügung gestellt, dann das Blut des Gekreuzigten darin aufgefangen habe und schließlich mit dieser Reliquie über Rom nach Südfrankreich und zuletzt nach Britannien geflohen sei. Dort sei Joseph im Bristol Kanal an Land gegangen und habe bei Glastonbury die älteste christliche Gemeinde auf englischem Boden gegründet. So sollte dieser Kelch auf die britischen Inseln gelangt sein, wo angeblich seit Arthurs Zeiten danach gesucht wird. Aber kann es sich wirklich so zugetragen haben?

Spurensuche

Neuere Forschungen geben zu der Vermutung Anlass, dass der Abendmahlskelch tatsächlich erhalten sein könnte, und seit Jahrhunderten verehrt wird.

In England und Frankreich, wo man den Ursprung der Gralssagen suchen möchte, fanden sich keine Spuren, wohl aber in Spanien. Eine alte Legende will wissen, dass die von Jesus bei seinem Abschiedsmahl verwendete Schale bald nach der Kreuzigung nach Rom gelangte. Dann wurde dieser Kelch gegen Ende des 3. Jahrhunderts, als Christenverfolgungen einsetzten, von St. Lorenzo in die östlichen Pyrenäen gebracht. Dort wurde er zuerst in einer Höhle versteckt, dann in Huesca aufbewahrt und im 8. Jahrhundert vor den anrückenden Mauren in einer Höhle am Südhang der Pyrenäen in Sicherheit gebracht. Zwischen 1076 und 1399 war er im Kloster San Juan de la Pena (28 km südwestlich von Jaca am alten Jakobsweg), dann im Königspalast Alferia in Saragossa und später im Königsschloss von Valenzia. Seit 1437 befindet sich dieser sagenumwobene Kelch in der „Capilla del Santo Cáliz“ (Kapelle des Heiligen Grals) der Kathedrale von Valenzia. Nur eine weitere, von der katholischen Kirche nie anerkannte Reliquie, um die sich Legenden ranken?

Folgt man Wolfram von Eschenbach und Chrétien des Troyes, so ergeben sich überraschende Parallelen zwischen deren Epen und historischen Ereignissen:

ALFONSO I. (lat. Anfortius, bei Wolfram Anfortas, 1073-1134), König von Aragon und Navarra, wurde schwer verwundet in die Klosterburg von San Juan de la Pena gebracht, wo er seinen Verletzungen erlag. Diese Burg liegt versteckt im Wald, an einer überhängenden Felswand, unterhalb eines Sees. Über dem Kloster liegt der „Mont Salvador“ (1546 m), in okzitanischer Sprache „Mont Salvatge“, bei Wolfram „Munsalvaesche“. Viele der von Wolfram geschilderten Details von Bauart und Lage der „Gralsburg“ passen bestens zu San Juan de la Pena.

ROTROU II., Graf des Val de Perche, oder Perche-Val, war ein Vetter von Alfons I., den er oft begleitete. Rotrous Mutter verliert ihren Mann und mindestens einen Sohn. Rotrou kehrt nach dem Tod seines Vaters hastig nach Hause zurück (Oktober 1100), muss aber sofort weiterreisen, um mit seinem königlichen Vetter Alfonso I. in den Kampf zu ziehen; so verlässt er seine Mutter, die untröstliche Witwe. War Rotrou das Vorbild für Wolframs Parzival, seine Mutter für Herzeloyde?

Der Name „KYOT der Provenzal“ wird von Wolfram von Eschenbach als Gewährsmann angegeben, von dem die Parzival-Erzählung stammt. Lange haben Philologen nach diesem Kyot gesucht und seine Spur nun möglicherweise in Toledo gefunden: Im Kirchenarchiv der Kathedrale findet sich eine Urkunde aus dem 12. Jahrhundert, die mit „Guillelmus“ unterzeichnet ist. Eine Lautverwandtschaft mit Kyot ist herstellbar. Dieser Guillelmus von Narbonne war Schreiber der Gemahlin des Königs Alfonso I., der im Kloster San Juan de la Pena an seiner Kriegswunde siechte und starb. Als Gefolgsmann der Königin gut über die Familiengeschichte informiert, könnte er „Kyot“ sein, dessen Bericht über das Leiden Alfonsos I. Wolfram von Eschenbach und Chrétien de Troyes als Vorlage diente.

Der Heilige Gral

Folgt man Abd-ru-shin (1), so geschieht durch den „Heiligen Gral“, der die Form einer Schale hat, die Kraftvermittlung zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung – er existiert tatsächlich, bleibt jedoch alle Zeit in höchsten geistigen – nicht irdischen – Höhen. Auf Erden lassen sich allenfalls Abbilder oder Nachbildungen dieses heiligen Gefäßes finden, und es ist sicher kein Zufall, dass in vielen Religionen Gefäße, Kessel, Kelche im Mittelpunkt des Kultes stehen.

Die in Valenzia in der „Kapelle des Heiligen Gral“ gehütete Reliquie ist, wenn auch nicht der eigentliche „Heilige Gral“, dennoch eine außerordentliche Überraschung.

Dieser Kelch besteht aus drei Teilen:

1. Das Oberteil ist eine Schale aus Onyx, die nach Ansicht von Archäologen zwischen dem 4. vorchristlichen und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert im Orient gefertigt wurde. Sie könnte also aus dem Besitz eines reichen Juden wie Joseph von Arimathia stammen. Dreht man diese Schale, so entsteht ein interessantes Farbenspiel, von dem auch Chrétien berichtet. Der von Jesus verwendete Abendmahlskelch?

2. In den steinernen Sockel ist eine kurze, schwer lesbare kufisch-arabische Inschrift geritzt. Sie konnte noch nicht entschlüsselt werden. Auch dieses Detail fügt sich zu Wolframs Beschreibung von einem Stein, auf dem von Zeit zu Zeit eine Inschrift erscheint.

3. Sockel und Kelch sind mit einem prachtvollen, mit Edelsteinen geschmückten Stiel verbunden, der vermutlich erst im 12. Jahrhundert gefertigt wurde.

Heutige Forscher, die sich gründlich mit den Überlieferungen befasst haben, glauben die Quelle für die Gralsromane von Chrétien de Troyes und Wolfram von Eschenbach nun zu kennen. Und sie halten es für möglich, dass der in Valenzia aufbewahrte dreiteilige Kelch tatsächlich die Schale enthält, die Jesus bei seinem letzten Abendmahl benutzte.

Literatur:
(1) Abd-ru-shin „Im Lichte der Wahrheit, Gralsbotschaft“, Verlag der Stiftung Gralsbotschaft, Stuttgart, 1998.
(2) Behrend, Jens-Peter: „Die Suche nach dem Heiligen Gral“, Film des ZDF, November 2000.
(3) Godwin, Malcolm: „Der Heilige Gral“, Bechtermünz, Augsburg, 1996.
(4) Huf, Hans-Christian: „Sphinx: Vom Heiligen Grals zum Schatz der Zaren“, Lübbe, Bergisch Gladbach, 2000.
(5) Lampo, Hubert: „Artus und der Gral“, Fourier, Wiesbaden, 1993.
(6) Mandach, André de: „Auf den Spuren des heiligen Gral“, Göppinger Ar-beiten zur Germanistik, Göppingen, 1995.
(7) Ritter-Schaumburg, Heinz: „Die Nibelungen zogen nordwärts“, Herbig, München, 1981.