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Wirtschaft und Soziales

Das Dilemma mit den Zinsen

( Veröffentlich in GralsWelt 6/1997)

Ein biblisches Gebot und die Praxis der Ökonomie

Die Weltwirtschaft ist anscheinend unaufhaltsam auf dem Weg in die Globalisierung, die Umstellungen auf allen Ebenen der Ökonomie mit sich bringt. Scheinbar unantastbare Grundsätze des Sozialstaates wie der gewerkschaftlichen Bewegung geraten ins Wanken und erzwingen Diskussionen über neuartige Formen des Wirtschaftens, der Organisation des menschlichen Zusammenlebens und natürlich auch des Geldwesens, auf dem der Euro heute noch nicht überschaubare Veränderungen bringen wird.

Besonders heiß werden die Debatten, wenn man es wagt, die derzeitige Form der kapitalistischen Wirtschaft in Frage zu stellen und zum Beispiel an das Zinsverbot der Bibel erinnert:

„Wenn dein Bruder verarmt und neben dir abnimmt, so sollst du ihn aufnehmen als einen Fremdling oder Gast, dass er lebe neben dir, und sollst nicht Zinsen von ihm nehmen noch Wucher…“ (3. Mose, 25, 35).

Inwieweit dieses Gebot von den Alten Juden befolgt wurde, ist umstritten, zumal es nur rechtgläubigen Juden gegenüber galt: „Von den Fremden magst du Zins nehmen, aber nicht von deinem Bruder…“ (5. Mose, 23,21).

Mit dieser Ablehnung des Zinses standen die Alten Juden nicht allein. Auch Aristoteles (384 – 322 v.Chr.) erblickte im Geldverleihen gegen Zinsen ein Wuchergewerbe, und im Neuen Testament wird Jesus das Wort zugeschrieben: „Leihet, ohne etwas davon zu erhoffen.“ (Luk. 6,35).

Die Kirchenväter suchten nach theologischen Begründungen für die Ablehnung von Kapitalzinsen, und im Römischen Reich wie im mittelalterlichen Europa gab es gesetzlich verankerte Zinsverbote, die sich aber nie dauerhaft durchsetzen ließen.

Selbst im Mittelalter, als das biblische Zinsverbot noch ernst genommen wurde, fanden sich manche Wege, es zu umgehen; nicht zuletzt in der Form, dass jüdische Geldverleiher den Christen mit verzinslichen Darlehen aushalfen.

Im Deutschland des Mittelalters betrug der Darlehenszins 10 bis 12 %, ging dann auf 7 bis 8 % zurück, und bewegte sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts zwischen 4 und 8 %.

Auch der Islam hat es, trotz verschiedener Ansätze, nicht geschafft, ein zinsloses Geldsystem zu entwickeln und das Gebot des Propheten durchzusetzen:

„Ihr Gläubigen! Nehmt nicht Zins, in dem ihr in mehrfachen Beträgen wiedernehmt, was ihr ausgeliehen habt!“ (Koran, Sure 3 Vers 130).

Der Mensch ist eben oft bereit, für ein Gut mehr zu bezahlen, wenn es ihm sofort anstatt in einigen Monaten oder Jahren zur Verfügung steht. –

Erst in der Neuzeit fielen die Zinsverbote nach und nach, und nur der Zinsfuß war durch Vorschriften begrenzt, eine Regelung, die bis heute in Gerichtsurteilen ihren Nachklang findet.

Rechtlich völlig frei gegeben wurde der Zins erst im 19. Jahrhundert. Doch diese Zinsfreiheit wurde missbraucht und musste wieder eingeschränkt werden, so dass Gerichte bis heute zwischen erlaubtem „Zins“ und strafbarem „Wucher“ unterscheiden, was in Grenzfällen nicht leicht ist. –

Die Kapital-Verzinsung ist aus unserer Ökonomie nicht wegzudenken; sie verlangt Wachstum und gilt als treibende Kraft der Beschleunigung der Wirtschaft, da die Zinsen auf jedes Unternehmen als mehr oder weniger starker Druck wirken, der steigenden Umsatz und wachsenden Gewinn verlangt, um die immer drohende Liquiditätslücke zu vermeiden. Der Unternehmer muss hart arbeiten, um seine Schulden abzuzahlen…

Den verbreiteten ökonomischen Lehren von der notwendigen Kapital-Verzinsung steht allerdings eine einfache mathematische Beziehung im Wege: Zins und Zinseszins wachsen in geometrischer Progression und schießen allmählich oder auch überraschend schnell über alle Grenzen hinaus.

Sicher haben Sie schon gehört, dass bei einem (bescheidenen) Zinssatz von 3 % aus einer DM mit Zins und Zinseszins nach tausend Jahren über 6 Billionen DM werden, und nach 2.000 Jahren die unvorstellbare Summe von 4,7 x 10 hoch 25 (47.000.000.000.000.000.000.000.000) DM! Bei einem Goldpreis von DM 18,–/g könnte man damit eine Kugel von 637 Kilometer Durchmesser aus reinem Gold kaufen, sofern es so viel Gold gäbe!

Interessant ist auch die Frage nach der Zeit, in der sich das eingesetzte Kapital verzehnfacht, also aus 1 DM 10 DM geworden sind:
Zinssatz:     Zeit für die Verzehnfachung:
3%                             ca. 78 Jahre
5%                             ca. 47 „
7%                             ca. 34 „
Bei 7-prozentiger Verzinsung werden aus 1 DM nach 34 Jahren 10 DM, nach 68 Jahren 100 DM, aber nach 102 Jahren 1.000 DM und nach 136 Jahren 10.000 DM. Die Million ist nach 6 x 34 = 204 Jahren erreicht. (Man braucht nur die gewünschte Zehnerpotenz, bei der Million die 6, mit der Verzehnfachungszeit zu multiplizieren.)

Glaubt jemand, dass sich das Kapital (je nach Zinssatz) alle 78, 47, oder gar 34 Jahre verzehnfachen lässt?

Derzeit streben Großkonzerne einen Gewinn von 12 % auf den Kapitaleinsatz an (Stichwort „Shareholder-Value“); das entspricht einer Verzehnfachungszeit von gut 20 Jahren! (In einem Jahrhundert würden aus 1 DM 83.000 DM!).

Sicher läuft die Zinseszinsrechnung in der Praxis nicht so glatt wie auf dem Taschenrechner: Das Finanzamt streicht einen großen Teil der Zinsen ein, nicht jeder legt die Zinsen gleich wieder an, oder lässt vielleicht sein Kapital nicht einmal länger liegen. Doch können die Rechnungen zeigen, dass unsere Vorstellungen von der Kapital-Verzinsung auf längere Sicht nicht durchzuhalten sind; unbegrenztes materielles Wachstum ist auf einer begrenzten Erde unmöglich!

Waren die Alten Juden mit ihrem Zinsverbot vielleicht doch schlauer als unsere gelehrten Ökonomen?

Sollten wir gar ein Geld schaffen, das an Wert verliert, wenn man es hortet? Für Schweizer Anleger gab es schon den „Negativ-Zins“ und im Mittelalter soll es auch einmal etwas Entsprechendes gegeben haben, was angeblich zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte beigetragen haben soll. (Zu dem mittelalterlichen Geldverruf vgl. „Das Wunder der Kathedralen“ in „Kurz, knapp, kurios“ Seite 199).

Bei alternativen Denkern gibt es hierzu manchen Vorschlag. Ob die eine oder andere Idee praktisch brauchbar wäre, wage ich nicht zu entscheiden. Eine Folgerung liegt allerdings nahe: unser derzeitiges Verzinsungssystem führt in die Inflation, und ein bis zwei (oder mehr) Finanzkrisen pro Jahrhundert scheinen einprogrammiert. –

Lesen Sie dazu auch „Mehr, immer mehr, noch, mehr: Der falsche Ansatz unserer Wirtschaft“