Kategorien
Religionsgeschichte

Prädestination und Freiheit

(Veröffentlicht in GralsWelt Themenheft 16/2005)

Wenn Menschen ein Schicksalsschlag trifft, wenn der Tod eines geliebten Menschen zu beklagen ist, oder auch schwere materielle Verluste, dann kommt unausweichlich die Frage: „Warum?“
Jeder Mensch sucht dann Erklärungen für solch verwirrendes Geschehen, und möchte sich mit Antworten beruhigen, die ihm plausibel sind und die Kraft geben, weiter zu leben.

Diese Antworten sind in der Regel religiös begründet, denn es gehört ja zu den Aufgaben der Religionen, das „Unbegreifliche“ zu erklären, was wiederum heißt, im Transzendenten die Ursachen für Ereignisse zu finden, die sich dem menschlichen Verständnis entziehen.

Andererseits haben sich die modernen Wissenschaften zu einem Gegenpol der religiösen Weltschau entwickelt. Im naturwissenschaftlichen Weltbild kann man das menschliche Schicksal als ein von den Genen mitbestimmtes Spiel des Zufalls sehen. Da der Zufall weder Sinn, noch Zweck, noch Ziel kennt, scheint es müßig nach dem Sinn des Daseins, oder dem Einfluss des Schicksals auf das menschliche Leben zu fragen…

So pendeln denn auch die Antworten auf die Frage nach dem Schicksal zwischen Extremen: Zwischen der Vorherbestimmung (Prädestination) und dem „alles Zufall“.

Vorherbestimmt oder zufällig?
Jede Religion muss sich mit der Frage nach dem Ursprung des Menschen, nach seinem Schicksal und nach dem Sinn des Lebens befassen. Die gefundenen Antworten sind vielfältig, nicht selten widersprüchlich, und keinem Wahrheitssucher fällt es leicht, seinen persönlichen Weg im weiten Gebiet der religiösen Ideen zu finden.

Allein religiöse Fundamentalisten können es sich einfach machen: Sie übernehmen schriftliche Überlieferungen wörtlich, verbieten sich die als „heilig“ benannten Aussagen zu hinterfragen, und suchen in Schriften und Dogmen die im Rahmen ihrer Konfession gültigen Antworten.

Wer nicht davon ausgeht, dass religiöse Überlieferungen das unantastbare Wort eines Höchsten sind; wer einräumt, dass religiöse Bücher Fehler und Widersprüche enthalten können; wer selbst denken und Wahrheit empfinden will, kann der Eigenverantwortung nicht ausweichen. Er muss seinen eigenen Weg zwischen den vielen Standpunkten finden. Dabei wird er erleben, dass religiöse Extremisten ihn für seine undogmatische Wahrheitssuche verdammen.

Die Vorsehung
Manche gläubigen Menschen sind der Meinung, dass der allmächtige und allweise Schöpfer Vergangenheit und Zukunft kennen müsse; dass nichts geschehen könne, was nicht seinem Willen entspräche, und dementsprechend auch das Schicksal eines Menschen schon bei seiner Geburt weitgehend festgelegt sei.

Unterschiedliche religiöse oder esoterische Gruppen gehen mehr oder weniger von der Vorherbestimmtheit des menschlichen Schicksals aus:

· Im Christentum spielt die Frage nach der Erwählung des Menschen, seine Vorherbestimmung zum Heil, eine zentrale Rolle. Besonders in der protestantischen Theologie wird teilweise die Möglichkeit verneint, dass ein Mensch aus eigener Kraft, durch seine Werke, das Paradies erreichen könne. Als einziger Weg zum Seelenheil gilt die göttliche Gnade bzw. die Erlösung durch den Kreuzestod Christi.

· Für die klassische Astrologie sind Zukunft und Schicksal aus den Sternkonstellationen ablesbar und Vorhersagen möglich. Das Leben eines Menschen wäre also in etwa programmiert, für freie Entscheidungen bliebe nur ein geringer Spielraum.

· Im Islam leben viele Gläubige in der Vorstellung, dass Allah alles weiß und bestimmt. Er kennt alles was geschah und weiß alles was geschehen wird. Muslime glauben also an die göttliche Vorherbestimmung: Alles, was Allah will, dass es geschieht, geschieht auch so; und alles, von dem Allah nicht will, dass es geschieht, geschieht nicht. So hört man von Muslimen oft das Wort „so Gott will…“, das dem christlichen Spruch „der Mensch denkt und Gott lenkt“ entspricht.

Durch solche Annahmen wird die Entscheidungsfreiheit des Menschen eingeschränkt. Je nachdem, wie extrem der Prädestinationsgedanke vertreten wird, ist der Mensch ganz oder teilweise einem für ihn unergründlichen Schicksal unterworfen, dessen Ursache, Sinn, Zweck und Ziel ein Mysterium bleiben, das in dem unerforschlichen Ratschluss Gottes begründet ist…

Der Zufall als Entwicklungsprinzip
Im wissenschaftlichen Weltbild unserer Zeit spielt das Wort Zufall eine wichtige Rolle.
Die von Darwin begründete Evolutionstheorie erklärt die Entwicklung des Lebens mit zwei einfachen Prinzipien: Geringfügige Unterschiede innerhalb einer Art, und die Auslese, die Lebensformen begünstigt, die sich ihrer Umwelt besser anpassen und sich erfolgreicher reproduzieren können.

Die Unterschiede zwischen den Lebewesen entstehen vor allem durch zufällige, sprunghafte Veränderungen im Erbgut. Dementsprechend bestimmt der Zufall, wohin eine Lebensform sich entwickelt, und welche ihrer Individuen die besten Chancen haben, ihr Erbgut an Nachkommen weiterzugeben. So wäre es dem Wechselspiel zwischen dem genetischen Zufall und den Bedingungen auf unserer Erde zu verdanken, dass die uns geläufigen Lebensformen entstanden sind; und niemand weiß, wie sie sich weiter entwickeln werden. Die Evolution hätte auch völlig andere, für uns kaum vorstellbare Wege gehen, oder bei den Bakterien stehen bleiben können…

Viele Menschen sind damit einverstanden, sich als Zufallsprodukt zu betrachten, das von seinen Genen, von Umwelteinflüssen und unzähligen Zufälligkeiten gelenkt wird, und das wenig Spielraum besitzt für selbstbestimmte Entscheidungen und ursächliches Handeln. Damit schieben sie die Verantwortung für den Verlauf ihres Lebens ab.

Für andere greift dieses naturwissenschaftliche Menschenbild zu kurz, und sie suchen nach tieferen Einsichten, die in den Kirchen oft nicht befriedigt werden; daher das verbreitete Interesse an esoterischen Lehren.

Die Freiheit des Menschen
Das Bewusstsein von Selbstbestimmung ist schon für ein Kind ein wesentlicher Bestandteil seines Wohlbefindens. Und wenn von berühmten Philosophen die Verantwortlichkeit des Menschen gefordert wird, dann muss der Mensch selbst entscheiden können. Der freie Wille mag durch Umgebung, Erziehung, persönliche Erfahrungen eingeschränkt scheinen; doch die Verantwortlichkeit eines Menschen – z. B. im Strafrecht – ist untrennbar von seiner Entscheidungsfähigkeit. Niemand darf für Entschlüsse zur Verantwortung gezogen werden, über die er nicht selbständig bestimmen konnte. (Deshalb die moderne Nachsichtigkeit mit verbrecherischen Handlungen als „Krankheit“).

Die geforderte Entscheidungsfreiheit des Menschen kollidiert jedoch mit der Prädestinationslehre, die wenig Freiraum für selbständiges Handeln lässt.
Verschiedene religiöse Ansätze versuchen beides zu vereinen: Die Allwissenheit Gottes über Vergangenes und Zukünftiges, und die Handlungsfreiheit des Menschen:

· Nach christlicher Meinung ist die Möglichkeit von Sünde und Schuld im freien Willen begründet, der sich wider besseres Wissen gegen göttliche Gebote entscheiden kann. Doch wird in der christlichen Theologie heftig diskutiert, ob ein Mensch durch den Entschluss, Gutes zu tun, die Erlösung erringen kann. Luther hat dazu energisch den Standpunkt der Unverdienbarkeit des Heils vertreten und von der Alleinwirksamkeit der Gnade gesprochen. Jede Mitwirkung des Menschen am Heilsgeschehen leugnet er, weil der menschliche Wille zu verderbt und unfrei sei, um von sich aus das Gute zu tun. Dieser Standpunkt provoziert die Frage, wozu der Mensch sich um ein gerechtes Leben mühen solle, wenn schon von Anfang an seine Erwählung oder Verwerfung fest stünde; weitere, meist komplizierte oder auch spitzfindige Erklärungen werden dann nötig…
Die Katholische Kirche ist flexibler. Sie meidet die Extreme und lässt den freien Willen zu, der durch die Gnade Gottes nicht beseitigt, sondern befreit wird. Dann ist zu fragen, ob der Schöpfer alleswissend sei, und in wie weit er alle Zukunft im Detail kennen müsse…

· Im Islam heißt es, dass der Mensch einen eigenen freien Willen habe, mit dem er zwischen richtig und falsch auswählen kann und damit verantwortlich ist für sein Wohl. Eine Lehre, die aus meiner Sicht nicht recht zu der Allah zugeschriebenen Alleswissenheit, einschließlich der Kenntnis der Zukunft, passt. Dazu gibt es dann zusätzliche Erläuterungen.

· In asiatischen Religionen geht man davon aus, dass ein Mensch nicht nur einmal auf Erden lebt, dass er nicht gleich nach einem verpfuschten Erdenleben verdammt wird, sondern Zyklen mit vielen Leben auf Erden durchläuft. Dann bietet sich die Erklärung an, dass der Mensch mit seinen Absichten, seinen Entscheidungen und seinem Tun den eigenen spirituellen und materiellen Fortschritt formt. So wäre er „seines Glückes Schmied“ auf Erden und im Transzendenten, in diesem Erdenleben und im folgenden Sein.

Göttliche Eingriffe in das Weltgeschehen
Nicht nur in monotheistischen Religionen wird gelehrt, dass der Schöpfer (oder die Götter) das Geschehen auf unserer Erde verfolge und direkt in irdische Entwicklungen eingreife. Verschiedenste religiöse Gruppierungen sind so von der Richtigkeit ihrer Ideen überzeugt, dass sie die Hilfe des Höchsten zur Erreichung ihrer Ziele erwarten, vielleicht sogar fordern. Viele Erfolgsgeschichten – z. B. die Gründung und der Aufstieg der USA – waren angeblich nur durch göttliche Hilfe möglich. Man braucht allerdings ein hohes Maß an Selbstüberzeugtheit, wenn nicht Hybris, um zu glauben, dass die eigenen Absichten mit dem Willen Gottes voll und ganz übereinstimmen.

Im Mittelalter mochte man sich einen machtvollen Herrscher im Himmel über der Erde denken, dessen Schutz und Hilfe der Gläubige sich anvertrauen konnte. Mit dem heutigen Wissen von der Größe des Weltalls lassen sich solche kindlichen Gottesvorstellungen nicht vereinbaren.
Ein unerfassbarer Schöpfer, der über dem und außerhalb des uns sichtbaren Universums existiert, wäre dagegen auch in der Gegenwart denkbar. Er greift nicht – wie ein irdischer Herrscher – direkt in die Geschehnisse ein. Aber als Schöpfer hat er seine Bedingungen als ewige Gesetze von Anfang an in seinem Schöpfungswerk verankert. Diese allweisen Gesetze geben den Freiraum für Entwicklungen vor, ohne einzelne Ereignisse von vornherein festzulegen. Auch die vielen Lebensformen, die sich im Universum entwickelten, mussten nicht von Beginn an im Detail feststehen; sie konnten sich im Rahmen des Möglichen frei entfalten. Dieser Ansatz scheint nicht unähnlich dem „Raum der Möglichkeiten“ der modernen Quantenphysik. Der Raum der Möglichkeiten enthält zwar keine Vorhersagen für die Zukunft, doch er zeigt, dass vieles, aber nicht alles möglich ist.

So wirken im vom Schöpfer vorgegebenen Rahmen zahlreiche Natur- oder Gottgesetze harmonisch zusammen. Diese Schöpfungsgesetze geben Ziele, setzen Grenzen, fördern das Aufbauende und hemmen Fehlentwicklungen. In einem vielfältigen Schöpfungsweben, das weit über den uns sichtbaren Raum hinaus reicht, mag man dann einen Teil der Vorsehung erkennen.
Direkte Eingriffe des Schöpfers in irdische Entwicklungen sind – wenn überhaupt – nur in höchst seltenen Sonderfällen von weltumspannender Bedeutung zu erwarten. Niemand sollte damit rechnen, dass der Schöpfer in Einzelschicksale eingreift. Dafür verfügt der Mensch über einen großen Freiraum, in dem er seinen persönlichen Weg gestalten darf. Allerdings in dem Bewusstsein, dass er seine Entschlüsse zwar frei fällen kann, deren Folgen aber natürlicherweise auch erleben muss. Auf längere Sicht – nicht nur während eines Erdenlebens – erfährt der Mensch dann durch das selbsttätige Wirken der Gottgesetze auch die von einem vollkommenen Schöpfer zu erwartende Gerechtigkeit.

Diese Vorstellung vom weitgespannten Entwicklungsweg des Menschengeistes und seinem selbstgeformten Schicksal setzt ein unvergleichlich längeres Dasein in verschiedenen Ebenen voraus, als nur einen Erdenaufenthalt.

Literatur:
(1) Drehsen u. a., Wörterbuch des Christentums, Orbis, Düsseldorf, 1988.
(2) Grundriss des Glaubens, Katholischer Katechismus, Kösel, München, 1984.
(3) http://www. islam-guide.com.