Kategorien
Geschichte/Historik

China I: China und die Strategeme

(Veröffentlich in GralsWelt 5/1997)

Wenn heute von „wirtschaftlichem Wachstum“ die Rede ist, dann blickt man irritiert nach Ostasien.
Dort expandiert die Wirtschaft, dort gibt es seit Jahren Zuwachsraten der Produktion, von denen klassische Industrieländer nur träumen können, und dort erwartet man die schnell wachsenden Märkte der Zukunft, auf denen Europa und Amerika präsent sein müssen, wenn sie nicht abstürzen wollen in post-industrielle Gesellschaften, die in Museen die Leistungen der Vorfahren bewundern, aber selbst kaum mehr produzieren und exportieren können.

DER ERWACHENDE RIESE

Im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Erwartungen für Ostasien steht China; trotz der Japaner, trotz der „kleinen Tiger“ (Korea, Taiwan, Singapur) und der „neuen Tigerstaaten“ wie zum Beispiel Malaysia, Thailand oder Vietnam. China ist der erwachende Riese; das volkreichste Land der Erde, hat Menschen im Überfluss (derzeit sind angeblich mehr als 20 Millionen unterwegs auf der Suche nach Arbeit), hat noch unerschlossene Rohstofflager und eine bienenfleißige Bevölkerung, die reich werden möchte.

Dass chinesische Kaufleute seit Jahrhunderten als die geschicktesten ihres Metiers gelten, lässt ebenfalls einiges erwarten.

Die chinesische Kultur strahlt seit vielen Jahrhunderten auf benachbarte Länder aus und galt lange als Vorbild für ganz Ostasien. Aus chinesischer Sicht sind die Kulturen Koreas und Japans nur Plagiate der chinesischen Kultur, während Taiwan, Tibet, Vietnam und die Mongolei aus historischen Gründen sowieso zum chinesischen Reich gehören.

Grund genug, sich mit der uns sehr fremden Mentalität der Chinesen zu befassen.

Einen interessanten ersten Einstieg in die Weisheit Ostasiens bietet die vor kurzem als preiswertes Taschenbuch erschienene Schrift „Strategeme“ von Harro von Senger (siehe Literaturverzeichnis).

GEHEIME KRIEGSLISTEN

Strategeme, das sind „Kriegslisten“ mit denen man seine Gegner keinesfalls nur in Kriegszeiten täuschen und übertölpeln kann.

Im Krieg verschmähe keine List.
(Alter chinesischer Spruch)

Die Strategeme werden seit Jahrtausenden in China gesammelt und weitergegeben. In schriftlicher Form erschienen sie zum ersten Mal in der ältesten militärtheoretischen Abhandlung der Welt, einem Traktat über die Kriegskunst von Sun Wu (oder Sun Zi), einem Zeitgenossen des Konfuzius (551 – 479 v. Chr.), das – in einer neuen Bearbeitung aus dem Jahre 1984 – unter die 20 für die chinesische Kultur repräsentativsten Bücher eingereiht wurde.

Lange Zeit waren die „36 Strategeme“ von heute zwar mehr oder weniger geheim gehaltenes Wissen, doch werden in vielen klassischen chinesischen Novellen Strategeme beispielhaft angewendet, und die betreffenden Leitsätze sind als sprichwörtliche Redewendungen jedem Chinesen von Kind an vertraut.

Ein typisches Beispiel für ein solches Strategem findet sich im nebenstehenden Kasten.

STRATEGEM NR. 11:
DER PFLAUMENBAUM VERDORRT ANSTELLE DES PFIRSICHBAUMS
Ein Pfirsichbaum wächst an einem offenen Brunnen. Ein Pflaumenbaum wächst neben einem Pfirsichbaum. Insekten kommen und nagen an den Wurzeln des Pfirsichbaums. Der Pflaumenbaum (opfert sich, bietet seine Wurzeln den Insekten an und) verdorrt anstelle des Pfirsichbaumes. Wenn sich Bäume füreinander opfern, dürfen sich da Brüder gegenseitig vergessen?

Doch nicht in allen Beispielen nimmt der Pflaumenbaum das Opfer freiwillig auf sich. Dazu ein historisches Beispiel:
DER BRAND VON CHANGSHA: In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, als die Chinesen in ihrem Land gegen die Japaner kämpften, residierte Zhang Zhizhong (1890-1969) als Gouverneur der Provinz Hunan in Changsha. Ein Taipeher Strategembuch berichtet im Kapitel über das Strategem „Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaumes“ Details über einen Vorfall aus Zhang Zhizhongs Hunaner Zeit, die allerdings in offiziellen Geschichtsbüchern nicht erwähnt werden.
Nach der Eroberung der Stadt Wuhan (Provinz Hubei) im Oktober 1938 durch die Japaner schien die Lage für Changsha, wo Zhang Zhizhong residierte, brenzlig zu werden. Aufgrund der falschen Deutung eines Lageberichts glaubte Zhang Zhizhong, die japanischen Truppen hätten bereits das nur wenige Kilometer von Changsha gelegene Xinqianghe erobert. Voller Panik befahl er, Changsha anzuzünden, um sich danach mit den Truppen in Qingye zu verschanzen. So ging die Hauptstadt von Hunan am 12. November 1938 in Flammen auf. Est am 14. November wurde der Brand gelöscht; über 30.000 Einwohner fanden den Tod.
Doch kein Japaner ließ sich blicken. Eine genauere Untersuchung ergab, dass in dem fraglichen Lagebericht von dem einige Dutzend Kilometer von Changsha entfernten Stützpunkt Xinhe und nicht von Xinqianghe die Rede gewesen war.
Die sinnlose Verbrennung von Changsha erregte großes Aufsehen. Zhang Zhizhongs Kopf wurde gefordert. Die oberen Instanzen ordneten eine strenge Untersuchung an. Doch Zhang Zhizhong war um ein Strategem nicht verlegen. Er argumentierte gegenüber dem Garnisonskommandanten Feng Ti, dem Polizeivorsteher Wen Zhongfu und dem Kommandanten einer Sicherheitsgruppe Xu Kun:
„Dieser Vorfall geht uns alle an. Wir können die Verantwortung nicht von uns weisen. Wenn wir allerdings alle miteinander verhaftet werden, dann ist alles aus. Da ist es besser, ihr übernehmt einstweilen die gesamte Verantwortung. Ich begebe mich derweil in die Zentrale und bringe die Angelegenheit in Ordnung. Bestimmt lässt sich die Lage noch retten.“
Die drei Untergebenen stimmten zu. So konnte sich Zhang Zhizhong seiner Verantwortung entziehen. Er begab sich nach Chongqing, der damaligen Hauptstadt Chinas, wo er angeblich nicht nur nichts unternahm, um die drei Untergebenen zu retten, sondern im Gegenteil noch „den in den Brunnen Gefallenen Steine nachwarf“. Auf sein Betreiben hin seien die drei Getreuen erschossen und so die Mitwisser seines Versagens beseitigt worden.
In diesem Fall wurden die drei Pflaumenbäume vom Pfirsichbaum übertölpelt und geopfert. Auf Zhang Zhizhong wartete übrigens eine steile Karriere in der Volksrepublik China.

In einem „Lexikon der chinesischen Gegenwartsgeschichte“ (Peking 1985) wird der Brand von Changsha ähnlich geschildert, nur das hier die Verantwortung für die Hinrichtung der drei angeblich allein Schuldigen pauschal der Guomindang-Regierung zugeschoben wird. Sie habe den Volkszorn von sich auf die drei Sündenböcke ablenken wollen. Von Zhang Zhizhong heißt es in dem Lexikon nur, er sei „ebenfalls gemaßregelt“ worden.

Aus: „Strategeme – Anleitung zum Überlegen“; Chinesische Weisheit aus drei Jahrtausenden, gesammelt, übersetzt und gedeutet von Harro von Senger.

Die Lektüre der Strategeme, besonders der anschaulichen Anwendungsbeispiele, macht deutlich, dass man in Asien anders denkt als in Europa. Die „christliche Ethik“ spielt in weiten Teilen Asiens keine prägende Rolle, und die abendländische Philosophie ist einem gebildeten Asiaten in der Regel zwar besser bekannt als uns Europäern die chinesische; aber das heißt noch lange nicht, dass der Asiate das europäische oder amerikanische Denken akzeptiert und es den chinesischen Weisheiten vorzieht.

Das führt zu einer wichtigen Schlussfolgerung, die wir Abendländer nie vergessen sollten, wenn wir mit Asiaten in Kontakt kommen: Wenn das Gespräch zum Beispiel auf die Staatskunst kommt, so fällt unvermeidlich der Name Niccolo Machiavelli (1469 – 1527) mit seinem „II Principe“, die einem gebildeten Asiaten bekannt sein dürften. Weniger wahrscheinlich ist, dass ein Europäer schon von Sun Wu gehört hat, der immerhin zweitausend Jahre vor Machiavelli Abhandlungen über die Kriegskunst schrieb. (Vgl. „Kurz, knapp, kurios“ Seite 92 „Politik ohne Moral“).

DIE WURZELN ASIATISCHER ETHIK

Ähnlich verhält es sich mit vielen Grundgedanken und Grundlagen abendländischer Zivilisation.

So müssen wir uns bewusst sein, dass die für unser politisches Leben so bedeutsamen Begriffe wie „Menschenrechte“, „bürgerliche Freiheiten“, „Gewaltenteilung“ usw., ebenso wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Menschenrechtserklärungen der französischen Revolution, und die Charta der Vereinten Nationen allesamt Produkte der Philosophie der Aufklärung sind, die es in ganz Asien nie gab. Lediglich die „Demokratie“ lässt sich – wenn auch nur als Regierungsform eines Sklavenhalterstaates, der an seiner Form der Demokratie zugrunde ging – auf altgriechische Vorbilder zurückführen.

Für einen Asiaten sind dagegen die Philosophen der Aufklärung allenfalls eine neuere Spezies abendländischer Denker, keineswegs die Weisesten der Weisen der Welt.

In Ostasien wird man lieber auf Konfuzius verweisen, dessen Lehren sich (aus asiatischer Sicht) seit zweieinhalb Jahrtausenden praktisch bewährt haben, und die asiatische Gesellschaftsstrukturen bis heute prägen. Auch die Lehren von Lao-Tse (6. Jhdt. v. Chr.?) und besonders die von Buddha (ca. 560 – 480 v. Chr.) sind noch präsent und werden in Ostasien gelehrt und gelebt.

Wenn also ein Asiate, der auf westlichen Universitäten ausgebildet wurde, moderne Technik und modernes Marketing in seinem Heimatland praktiziert und mit Begeisterung klassische europäische Musik hört, so heißt das noch lange nicht, dass er auch die westliche Zivilisation rückhaltlos bewundert und bereit ist, das sogenannte „moderne Denken“ restlos zu übernehmen.

Denn die Wurzeln der asiatischen Ethik gründen tief in sehr alten Traditionen. Die fernöstlichen Völker schöpfen daraus Kraft, und häufig vertragen sich ihre Anschauungen und ihre Einsichten in die Welt und das Leben sehr gut mit angewandter westlicher Technik.

LANGNASIGE BARBAREN

Nicht wenige Chinesen mögen sich im Rückblick auf ihre sehr alte Kultur, die teilweise ungebrochen bis heute nachwirkt, dem Westen sogar überlegen fühlen und den Ehrgeiz entwickeln, den „langnasigen Barbaren“ im wirtschaftlichen Wettbewerb die Überlegenheit der asiatischen Kultur zu beweisen, ihnen mit dem Fundus eigener „Strategeme“ die Schneid abzukaufen. –

Lesen Sie dazu auch unter „Geschichte“ die Beiträge : „China Teil II„, „China Teil III„, „1421 Als China die Welt entdeckte“.

Literatur:
(1) Harro von Senger: „Strategeme – Anleitung zum Überleben“, dtv, München, 1996.
(2) Sun Tsu: „Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft“, Hermann Bauer, Freiburg 1997.