Kategorien
Buch- und Filmbesprechungen

Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus

Von Colin Crouch
Suhrkamp, Berlin, 2011,  ISBN 978-3-518-42274-8, 148 Seiten

(Veröffentlicht in GralsWelt 75/2013)

Haben Sie sich auch schon gefragt, wie es möglich war, „dass eine von der rücksichtslosen Gier der Banken verursachte Krise in ein Problem der Staatshaushalte umgewandelt wurde. Während die Boni der Banker auf Vorkrisenlevel zurückkehren, verlieren im öffentlichen Dienst Tausende ihre Stelle.“ (S. 246)

Colin Crouch gibt in seinem ebenso interessanten wie aufschlussreichen Buch die Antwort.

Zunächst erklärt er die Entwicklung des Liberalismus, im Vergleich zu anderen Wirtschaftstheorien, während der letzten beiden Jahrhunderte. Dabei wird deutlich, dass es zwar viele Theorien – besser Hypothesen – gibt, aber keine allgemein anerkannte, durch harte Fakten gestützte, wissenschaftliche Lehre der Ökonomie. Die Professorenmeinungen widersprechen sich. Die jeweils als wegweisend ausgegebenen ökonomischen Theorien sind von politischen Ideologien, der Mode, und vor allem von den Interessen einflussreicher, finanzstarker Gruppen stärker geprägt als von fundierten Erfahrungstatsachen. Wie sagte mir ein guter Freund, Ordinarius für Wirtschaft, vor einigen Jahren: „Die Ökonomie ist eigentlich gar keine Wissenschaft!“

Dadurch ist im 20. Jahrhundert die Wirtschaftspolitik, sowohl in autoritären wie in demokratischen Staaten, weltweit zu einem Experimentierfeld verkommen, das ganze Erdteile in Krisen stürzte und viele Millionen Menschen leiden ließ.[i]

Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 kam der Wirtschaftsliberalismus in Verruf. Viele Staaten, auch die USA, suchten nach besseren Alternativen. Hilfreiche Regulierungen des Finanzsystems wurden eingeführt, die beim Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg Exzesse verhinderten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhanges sah sich der Neoliberalismus als Sieger. Vom Crash von 1929 wollte keiner mehr etwas wissen. So konnten die Befürworter des Neoliberalismus notwendige Beschränkungen rückgängig machen und weitgehende Liberalisierungen und Deregulierungen der globalisierten Wirtschafts- und Finanzsysteme durchsetzen[ii]. Die Bahn wurde frei für wild gewordene Spekulanten, die die Bankenkrise von 2008 und die EURO-Krise auslösten. Diese, von ihnen zumindest mit verschuldeten, Crashs haben die Finanzhaie fast unversehrt überstanden. Und sie machen lustig weiter wie zuvor. Die Spekulationsverluste trägt der Steuerzahler!

Diese Benachteiligung der einfachen Bürger scheint für Demokratien unglaublich! Doch unsere gewählten Politiker sind zum Spielball der Hochfinanz geworden. Diese kann in zunehmendem Maße staatliche Entscheidungen ihren Interessen anpassen; nicht nur in den USA als der Leitfigur für die Weltwirtschaft. Im Jargon der Wirtschaftswissenschaftler heißt so etwas „state capture“ (Kaperung des Staates).

Crouch zeigt in seinem Buch in erschreckender Deutlichkeit, dass der Einfluss der Hochfinanz auf Regierungen mittels Korruption, Lobbyismus, Partei- und Wahlkampfspenden[iii], usw. längst nicht mehr auf Entwicklungsländer begrenzt ist, sondern auch die westlichen Demokratien im Griff hat.

Lesen Sie dieses Buch und denken Sie mit mir darüber nach, wie wir unsere Demokratie aus der Umklammerung des materialistischen Molochs der Hochfinanz befreien können.

Abwarten und auf eine Revolution hoffen wäre keine gute Lösung![iv]

Endnoten:
[i] Vgl. „Kurz, knapp, kurios“ Seite 493 „Das Jahrhundert der Utopien“.
[ii] Vgl. „Der Start ins 21. Jahrhundert“ unter „Wirtschaft und Soziales“ mit dem Zitat „Monetarismus oder Menschenrechte?“, unter „Wirtschaft und Soziales“.
[iii] In den USA hat der letzte Präsidentschaftswahlkampf insgesamt sechs Milliarden Euro verschlungen. (www.spiegel.de/politik/ausland/wahlkampf).
[iv] In Frankreich wurde ein anonymes Pamphlet „Der kommende Aufstand“ („L’insurrection qui vient“) aus dem Jahre 2007 zum Bestseller. Eine deutsche Übersetzung kann man in Internet abrufen. Wann wachen unsere demokratischen Politiker endlich auf?